14.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil16.12.2014

Antrag der NPD gegen die Bundes­familien­ministerin wegen negativer Äußerungen in einem Zeitungs­in­terview erfolglosVon der NPD angegriffene Äußerung ist politischem Meinungskampf zuzuordnen und unterliegt daher nicht dem Neutra­li­tätsgebot

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine Organklage der NPD gegen die Bundes­mi­nisterin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wegen einer Äußerung in einem Zeitungs­in­terview vor der Landtagswahl 2014 in Thüringen zurückgewiesen. Zwar sind die Mitglieder der Bundesregierung bei Wahrnehmung ihrer amtlichen Funktion zu strikter Neutralität gegenüber den politischen Parteien verpflichtet. Das Neutra­li­tätsgebot gilt jedoch nur, soweit die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität seines Amtes oder der damit verbundenen Ressourcen erfolgt. Im konkreten Fall ist ein solcher Bezug weder den äußeren Umständen noch dem Interview selbst zu entnehmen. Daher ist die von der NPD angegriffene Äußerung dem politischen Meinungskampf zuzuordnen, der nicht dem Neutra­li­tätsgebot unterliegt.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Bundes­fa­mi­li­en­mi­nisterin (Antragsgegnerin) nahm am 23. Juni 2014 in Weimar an der Verleihung des Thüringer Demokra­tie­preises teil. Daneben gab sie an diesem Tag ein Zeitungs­in­terview, das am 25. Juni 2014 in der Thüringischen Landeszeitung erschien. Auf die Frage, wie im Falle eines Einzugs der Antragstellerin in den Landtag mit deren Anträgen im Parlament oder auf Kommunalebene umzugehen sei, antwortete die Antragsgegnerin u. a.: "Aber ich werde im Thüringer Wahlkampf mithelfen, alles dafür zu tun, dass es erst gar nicht so weit kommt bei der Wahl im September. Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt." Die Antragstellerin sieht sich hierdurch in ihrem Recht auf Chancengleichheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt.

Recht auf Wahrung der Chancen­gleichheit politischer Parteien nicht verletzt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht führte in seiner Entscheidung aus, dass die von der Antragstellerin angegriffene Äußerung der Antragsgegnerin die Antragstellerin nicht in ihrem Recht auf Wahrung der Chancen­gleichheit politischer Parteien verletzt.

Staatsorgane dürfen nicht partei­er­greifend zugunsten oder zulasten einer politischen Partei in den Wahlkampf einwirken

Das Recht politischer Parteien, gleich­be­rechtigt am Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes teilzunehmen, wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche partei­er­greifend zugunsten oder zulasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern in den Wahlkampf einwirken. Eine solche Einwirkung verstößt gegen das Gebot der Neutralität des Staates im Wahlkampf und verletzt die Integrität der Willensbildung des Volkes durch Wahlen und Abstimmungen.

Maßstäbe für Äußerungen des Bundes­prä­si­denten nicht auf Mitglieder der Bundesregierung übertragbar

Die diesbezüglichen Maßstäbe für Äußerungen des Bundes­prä­si­denten sind auf die Mitglieder der Bundesregierung nicht übertragbar. Sie sind vielmehr ein spezifischer Ausdruck der besonderen Stellung, die das Grundgesetz dem Bundes­prä­si­denten zuweist. Im Unterschied zur Bundesregierung und deren Mitgliedern steht der Bundespräsident weder mit den politischen Parteien in direktem Wettbewerb um die Gewinnung politischen Einflusses noch stehen ihm in vergleichbarem Umfang Mittel zur Verfügung, die es ermöglichten, durch eine ausgreifende Infor­ma­ti­o­ns­politik auf die Meinungs- und Willensbildung des Volkes einzuwirken.

Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung sind eigenständig zu beurteilen

Öffentliche Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung sind vor dem Hintergrund ihrer Aufgaben und Befugnisse sowie ihrer verfas­sungs­recht­lichen Stellung eigenständig zu beurteilen. Die Bundesregierung nimmt staatsleitende Funktionen wahr, die auch die Befugnis zur Öffent­lich­keits­arbeit beinhalten. Darunter fällt namentlich die Darlegung und Erläuterung der Politik der Regierung hinsichtlich getroffener Maßnahmen und künftiger Vorhaben angesichts bestehender oder sich abzeichnender Probleme sowie die sachgerechte, objektiv gehaltene Information über den Bürger unmittelbar betreffende Fragen und wichtige Vorgänge auch außerhalb oder weit im Vorfeld der eigenen gestaltenden politischen Tätigkeit.

Bundesregierung sind als "Schmähkritik" zu qualifizierende Äußerungen untersagt

Bei der Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgaben ist die Bundesregierung an die Grundrechte sowie an Gesetz und Recht gebunden (Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG). Schon deshalb ist ihr jede Äußerung untersagt, die in anderen Zusammenhängen als „Schmähkritik“ im Sinne der §§ 185 ff. StGB zu qualifizieren wäre. Ungeachtet dessen hat die Bundesregierung die Pflicht, das Recht der politischen Parteien auf Chancen­gleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG--Grundgesetz und das daraus folgende Neutra­li­tätsgebot zu beachten.

Bundesregierung hat jede auf die Willensbildung des Volkes einwirkenden und partei­er­grei­fenden Maßnahmen zu unterlassen

Da das Regie­rungs­programm die Vorstellungen der sie tragenden Parteien widerspiegelt und das Handeln der Regierung mit diesen Parteien verbunden wird, fließt die Bewertung dieses Handelns in die Wahlent­scheidung ein und wirkt sich auf die Wahlchancen der Parteien im politischen Wettbewerb aus. Dies ist Teil des politischen Prozesses einer freiheitlichen Demokratie wie sie das Grundgesetz versteht. Sich daraus ergebende Ungleichheiten für die Teilnehmer des politischen Wettbewerbs sind hinzunehmen. Jede über das bloße Regie­rungs­handeln hinausgehende Maßnahme, die auf die Willensbildung des Volkes einwirkt und in partei­er­grei­fender Weise auf den Wettbewerb zwischen den politischen Parteien Einfluss nimmt, hat die Bundesregierung jedoch zu unterlassen. Es ist ihr von Verfassungs wegen versagt, sich im Hinblick auf Wahlen mit politischen Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren und die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel und Möglichkeiten zu deren Gunsten oder Lasten einzusetzen.

Inhaber eines Ministeramtes darf außerhalb seiner amtlichen Funktionen am politischen Meinungskampf teilnehmen und in Wahlkampf eingreifen

Für das einzelne Mitglied der Bundesregierung kann nichts anderes gelten als für die Bundesregierung als Ganzes. Dies schließt allerdings nicht aus, dass der Inhaber eines Ministeramtes außerhalb seiner amtlichen Funktionen am politischen Meinungskampf teilnimmt und in den Wahlkampf eingreift. Die bloße Übernahme des Regierungsamtes hat nicht zur Folge, dass dem Amtsinhaber die Möglichkeit partei­po­li­tischen Engagements nicht mehr offensteht, denn dies würde zu einer nicht gerecht­fer­tigten Ungleich­be­handlung der die Regierung tragenden Parteien führen.

Inhaber eines Regierungsamtes wird immer in Doppelrolle als Bundesminister und Parteipolitiker wahrgenommen

Soweit der Inhaber eines Regierungsamtes am politischen Meinungskampf teilnimmt, muss aber sichergestellt sein, dass ein Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten unterbleibt. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass beim Handeln des Inhabers eines Ministeramtes eine strikte Trennung der Sphären des „Bundesministers“, des „Partei­po­li­tikers“ und der politisch handelnden „Privatperson“ nicht möglich ist. Auch aus Sicht der Bürger wird der Inhaber eines Regierungsamtes regelmäßig in seiner Doppelrolle als Bundesminister und Parteipolitiker wahrgenommen.

Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung sind nach den Umständen des Einzelfalls zu bewerten

Ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität des Regierungsamtes oder der mit ihm verbundenen Ressourcen stattgefunden hat, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu bestimmen. Zu bejahen ist dies regelmäßig, wenn ein Bundesminister bei einer Äußerung ausdrücklich auf sein Ministeramt Bezug nimmt oder die Äußerung ausschließlich Maßnahmen oder Vorhaben des von ihm geführten Ministeriums zum Gegenstand hat. Amtsautorität wird ferner in Anspruch genommen, wenn der Amtsinhaber sich durch amtliche Verlautbarungen etwa in Form offizieller Publikationen, Presse­mit­tei­lungen oder auf offiziellen Internetseiten seines Geschäfts­be­reichs erklärt. Auch aus äußeren Umständen - wie der Verwendung von Staatssymbolen und Hoheitszeichen, der Nutzung von Amtsräumen oder dem Einsatz sonstiger Sach- oder Finanzmittel - kann sich ein spezifischer Amtsbezug ergeben. Dieser liegt auch vor, wenn ein Bundesminister sich im Rahmen einer von der Bundesregierung verantworteten Veranstaltung äußert oder ausschließlich aufgrund seines Regierungsamtes an einer Veranstaltung teilnimmt. Demgegenüber ist eine schlichte Beteiligung am politischen Wettbewerb insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Regie­rungs­mitglied im partei­po­li­tischen Kontext agiert, z.B. auf Parteitagen oder vergleichbaren Partei­ve­r­an­stal­tungen.

Bei Talkrunden und Diskus­si­onsforen kann Inhaber eines Regierungsamtes sowohl als Regie­rungs­mitglied, Parteipolitiker oder Privatperson angesprochen sein

Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses (Talkrunden, Diskus­si­onsforen, Interviews) bedürfen differenzierter Betrachtung. Der Inhaber eines Regierungsamtes kann sowohl als Regie­rungs­mitglied als auch als Parteipolitiker oder Privatperson angesprochen sein, im Rahmen derselben Veranstaltung bei einer Mehrzahl von Aussagen auch in unter­schied­licher Weise. Der Inhaber eines Regierungsamtes ist nicht verpflichtet, sich auf Aussagen zur Regie­rung­s­tä­tigkeit zu beschränken, da auch dies mit dem Recht politischer Parteien auf Chancen­gleichheit nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr ist er auch insoweit zur Teilnahme am politischen Meinungskampf befugt. Nimmt er aber für eine Aussage in einem Interview die mit seinem Amt verbundene Autorität in spezifischer Weise in Anspruch, ist er an das Neutra­li­tätsgebot gebunden.

Recht der Antragstellerin auf Chancen­gleichheit im vorliegenden Fall nicht verletzt

Die Geltung und Beachtung des Neutra­li­täts­gebots unterliegen bei der Bundesregierung und ihren Mitgliedern unein­ge­schränkter verfas­sungs­ge­richt­licher Kontrolle. Nach diesen Maßstäben ist das Recht der Antragstellerin auf Chancen­gleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG durch die angegriffene Äußerung der Antragsgegnerin nicht verletzt. Die Äußerung ist dem politischen Meinungskampf zuzuordnen, so dass die Antragsgegnerin nicht an das aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG folgende Neutra­li­tätsgebot gebunden war.

Beanstandete Äußerung wurden nicht unter Inanspruchnahme staatlicher Autorität oder Ressourcen des Amtes gemacht

Den äußeren Umständen lässt sich nicht entnehmen, dass die Antragsgegnerin die beanstandete Äußerung unter Inanspruchnahme staatlicher Autorität oder Ressourcen ihres Amtes gemacht hätte. Insbesondere ergibt sich dies nicht aus der Tatsache, dass die Antragsgegnerin in Wahrnehmung ihres Amtes als Bundes­mi­nisterin an der Eröffnung der Tagung teilgenommen hat. Die Eröffnung der Tagung und das Interview stellen zwei unter­schiedliche Sachverhalte dar, die getrennt voneinander zu beurteilen sind. Auch die übrigen äußeren Umstände führen zu keinem anderen Ergebnis. Weder hat die Antragsgegnerin bei der Führung des Interviews auf die Verwendung von Staatssymbolen oder Hoheitszeichen zurückgegriffen noch ist ein äußerungs­be­zogener Einsatz von Sach- oder Finanzmitteln feststellbar, die der Antragsgegnerin aufgrund ihres Regierungsamtes zur Verfügung stehen.

Antragsgegnerin bezieht bei Aussagen in den Medien in keiner Weise auf Amt in der Bundesregierung und damit einhergehende Autorität

Dem Interview selbst kann eine spezifische Inanspruchnahme der Autorität des Regierungsamtes ebenfalls nicht entnommen werden. Das Interview hat zwar weitgehend die Regie­rung­s­tä­tigkeit der Antragsgegnerin und Projekte des von ihr geführten Ministeriums zum Gegenstand. Hiervon ist aber der Teil des Interviews zu unterscheiden, der sich mit dem möglichen Einzug der Antragstellerin in den Thüringer Landtag befasst und die streitbefangene Äußerung der Antragsgegnerin enthält. Die Antragsgegnerin bezieht sich in dieser Passage in keiner Weise auf ihr Amt als Mitglied der Bundesregierung und die damit einhergehende Autorität. Stattdessen verweist sie auf ihre Erfahrung im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern und damit auf persönliche Kenntnisse, die sie gerade nicht aufgrund ihrer Tätigkeit als Mitglied der Bundesregierung gewonnen hat. Die Aussage der Antragsgegnerin stellt einen Beitrag zur partei­po­li­tischen Ausein­an­der­setzung dar. Hiergegen muss die Antragstellerin sich mit den Mitteln des öffentlichen Meinungskampfes zur Wehr setzen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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