21.11.2024
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Dokument-Nr. 31116

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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.11.2021

Schul­schlie­ßungen waren nach der im April 2021 bestehenden Erkenntnis- und Sachlage zulässigVerfas­sungs­be­schwerde gegen Schul­schlie­ßungen scheitert

Der Bundes­verfassungs­gericht hat mehrere Verfassungs­beschwerden zurückgewiesen, die sich gegen das vollständige oder teilweise Verbot von Präsen­z­un­terricht an allge­mein­bil­denden Schulen zum Infek­ti­o­ns­schutz („Schul­schlie­ßungen“) nach der vom 22. April bis zum 30. Juni 2021 geltenden „Bundesnotbremse“ richten.

Die Anordnung von Schulschließungen nach § 28 b Abs. 3 IfSG war Bestandteil eines Gesamt­s­chutz­konzepts mit einem Maßnahmenbündel, das mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 bundesweit zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 eingeführt wurde („Bundesnotbremse“). Der Präsen­z­un­terricht an allgemein- und berufsbildenden Schulen war vollständig untersagt, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufein­an­der­fol­genden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 den Schwellenwert von 165 je 100 000 Einwohner überschritt; ab einem Schwellenwert von 100 durfte Präsen­z­un­terricht nur zeitlich begrenzt in Form von Wechsel­un­terricht stattfinden (§ 28 b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG). Die Länder konnten Abschluss­klassen und Förderschulen von dem Verbot von Präsen­z­un­terricht ausnehmen und eine Notbetreuung nach von ihnen festgelegten Kriterien einrichten. Die Durchführung von Präsen­z­un­terricht war nur zulässig bei Einhaltung angemessener Schutz- und Hygienekonzepte. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte durften nur dann am Präsen­z­un­terricht teilnehmen, wenn sie zweimal in der Woche mittels eines anerkannten Tests auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 getestet wurden. Bei Unterschreiten der relevanten Schwellen traten die Beschränkungen außer Kraft. Die Geltung der Vorschrift war auf die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite begrenzt, längstens jedoch bis zum Ablauf des 30. Juni 2021. Die beschwer­de­füh­renden Schülerinnen und Schüler rügen insbesondere die Verletzung eines Rechtes auf Bildung. Die Eltern der beschwer­de­füh­renden Schülerinnen und Schüler machen unter anderem geltend, dass ihr nach Art. 6 Abs. 1 GG geschütztes Recht auf freie Gestaltung des Familienlebens durch das Verbot von Präsen­z­un­terricht unver­hält­nismäßig beeinträchtigt worden sei.

BVerfG: Keine Verletzung des Recht auf schulische Bildung

Die Verfas­sungs­be­schwerden bleiben ohne Erfolg. Das Verbot von Präsen­z­un­terricht nach § 28 b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG verletzte nicht das Recht auf schulische Bildung. Das Verbot stellte einen Eingriff in das nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG geschützte Recht auf schulische Bildung dar. Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG enthält ein Recht gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu eigen­ver­ant­wort­lichen Persön­lich­keiten auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung gemäß dem Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung). Der Schutzbereich dieses Rechts umfasst, soweit es nicht um die berufsbezogene Ausbildung geht, die Schulbildung als Ganze, also sowohl die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten wie auch Allge­mein­bildung und schulische Erziehung. Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigen­ver­ant­wort­lichen Persön­lich­keiten unverzichtbaren Mindest­standards von Bildungs­an­geboten, enthält jedoch keinen originären Leistungs­an­spruch auf eine bestimmte Gestaltung von Schule. Dem Anspruch auf einen Mindeststandard schulischer Bildungs­leis­tungen können zwar ausnahmsweise überwiegende Gründe des Schutzes von Verfas­sungs­rechts­gütern entgegenstehen, nicht jedoch die staatliche Entschei­dungs­freiheit bei der Verwendung knapper öffentlicher Mittel. Das Recht auf schulische Bildung umfasst auch ein Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungs­an­geboten im Rahmen des vorhandenen Schulsystems. Es enthält darüber hinaus ein Abwehrrecht gegen Maßnahmen, welche das aktuell eröffnete und auch wahrgenommene Bildungsangebot einer Schule einschränken, ohne das vorhandene Schulsystem selbst zu verändern. Die zuletzt genannte abwehr­rechtliche Gewähr­leis­tungs­di­mension des Rechts auf schulische Bildung ist hier berührt. Das Verbot von Präsen­z­un­terricht stellte einen am Gebot der Verhält­nis­mä­ßigkeit zu messenden Eingriff in dieses Recht dar, weil es allein der Bekämpfung der Pandemie diente und dabei das Schulsystem an sich mit dem Präsen­z­un­terricht als Regel­un­ter­richtsform unberührt ließ.

Verbot von Präsen­z­un­terricht verfas­sungsgemäß

Das Verbot von Präsen­z­un­terricht war formell und materiell verfassungsgemäß. Dem Bundes­ge­setzgeber stand die erforderliche Gesetz­ge­bungs­kom­petenz zu und das Gesetz bedurfte nicht der Zustimmung durch den Bundesrat. Materiell genügte die angegriffene Regelung insbesondere dem Gebot der Verhält­nis­mä­ßigkeit. Durch das Verbot sollten, ebenso wie durch die weiteren in der „Bundesnotbremse“ enthaltenen Beschränkungen zwischen­mensch­licher Kontakte, Infektionen eingedämmt und so Leben und Gesundheit geschützt und das Gesund­heits­system vor einer Überlastung bewahrt werden. Damit diente die Maßnahme verfas­sungs­rechtlich legitimen Zwecken, die der Gesetzgeber in Erfüllung grund­recht­licher Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erreichen wollte. Die Einschätzung des Gesetzgebers, ein Verbot von Präsen­z­un­terricht bei hohen Inzidenzwerten könne zusammen mit den anderen Maßnahmen der „Bundesnotbremse“ zur Beschränkung zwischen­mensch­licher Kontakte den Schutz von Leben und Gesundheit und der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Gesund­heits­systems jedenfalls fördern, begegnet keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Die sachkundigen Dritten sind in ihren Stellungnahmen davon ausgegangen, dass sich bei allen bisher aufgetretenen Virusvarianten auch Kinder und Jugendliche mit dem Coronavirus anstecken und dann zu Überträgern dieses Virus werden können, auch wenn sie selbst nur in seltenen Fällen schwer erkranken. Nach sachkundiger Einschätzung können sich die Schülerinnen und Schüler im Rahmen der vielfältigen Kontakte mit anderen Schülern und den Lehrkräften im Klassenzimmer, im Schulgebäude oder dessen Außengelände, aber auch auf dem Weg zur Schule anstecken und das Virus dann auf Personen in ihrem familiären Umfeld oder auf die Lehrkräfte übertragen. Auf diese Weise nähmen auch geöffnete Schulen am Infek­ti­o­ns­ge­schehen teil.

Verbot von Präsen­z­un­terricht zum Schutz der Bevölkerung und zur Aufrecht­er­haltung eines funkti­o­ns­fähigen Gesund­heits­systems auch erforderlich

Das Verbot von Präsen­z­un­terricht war zum Schutz der Bevölkerung vor infek­ti­o­ns­be­dingten Gefahren von Leib und Leben und zur Aufrecht­er­haltung eines funkti­o­ns­fähigen Gesund­heits­systems auch erforderlich. Das wäre nur dann nicht der Fall gewesen, wenn eindeutig festgestellt werden könnte, dass Infektionen durch die weniger belastende Alternative geöffneter Schulen mit regelmäßigen Tests und Hygie­ne­maß­nahmen mindestens gleich wirksam hätten bekämpft werden können wie durch ein Verbot von Präsen­z­un­terricht. Die wissen­schaftliche Erkenntnislage hierzu ist jedoch durch Unsicherheit geprägt. Zwar hat einer der sachkundigen Dritten in diesem Verfahren eine entsprechende Einschätzung abgegeben. Sie wird so von den übrigen Sachkundigen indes nicht geteilt. Mehrere sachkundige Dritte haben angemerkt, dass eine fundierte fachwis­sen­schaftliche Bewertung nicht möglich sei, weil noch keine Daten zur Wirksamkeit der verschiedenen, bisher an Schulen ergriffenen Maßnahmen zur Infek­ti­o­ns­be­kämpfung erhoben und ausgewertet worden seien. Dementsprechend sind deren Aussagen zur Wirksamkeit der beiden Alternativen auch eher vage. Ein Sachkundiger vertritt die Auffassung, das Infek­ti­o­ns­ge­schehen könne jedenfalls mit Antigen-Schnelltests in Schulen nicht gleich wirksam eingedämmt werden und flächendeckende PCR-Tests seien aus Kapazi­täts­gründen nicht möglich.

Verbot von Präsen­z­un­terricht beeinträchtigte das Recht auf schulische Bildung allerdings schwerwiegend

Das Verbot von Präsen­z­un­terricht stand gemessen an der Sach- und Erkenntnislage zum maßgeblichen Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes nicht außer Verhältnis zu den damit verfolgten Zwecken. Das Verbot von Präsen­z­un­terricht beeinträchtigte das Recht der Kinder und Jugendlichen auf schulische Bildung allerdings schwerwiegend. Das Bundesinstitut für Bevöl­ke­rungs­for­schung geht davon aus, dass sich die vollständigen und partiellen Schul­schlie­ßungen von März 2020 bis Anfang Juni 2021 auf 173 Tage summierten. Nach Angaben des Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbandes fiel der Präsen­z­un­terricht im Durchschnitt insgesamt um ein halbes Schuljahr aus. Die sachkundigen Dritten weisen darauf hin, dass der Präsen­z­un­terricht nicht vorwiegend durch gemeinsamen digitalen Unterricht, sondern durch die Bereitstellung von Aufgaben ersetzt wurde. Nach sachkundiger Einschätzung führte der Wegfall von Präsen­z­un­terricht zu Lernrückständen und Defiziten in der Persön­lich­keits­ent­wicklung. Mit dem Präsenz­schul­betrieb sei ein für die psychosoziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen wichtiger Sozia­li­sa­ti­o­nsraum entfallen. Die Schülerinnen und Schüler an Grundschulen waren nach einhelliger Einschätzung der sachkundigen Dritten besonders schwerwiegend betroffen, weil der Bildungserfolg bei ihnen von der Möglichkeit direkter Interaktion mit den Lehrern abhängt und Lernrückstände in dieser frühen Bildungsphase den gesamten schulischen Werdegang beeinträchtigen können. Die sachkundigen Dritten schätzen außerdem die Lernrückstände infolge des Wegfalls von Präsen­z­un­terricht bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien als besonders groß ein. Darüber hinaus haben die Schul­schlie­ßungen zusammen mit den weiteren Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nach den eingeholten Stellungnahmen der sachkundigen Dritten in vielen Fällen das körperliche und psychische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen und deren familiäre Verhältnisse verschlechtert und dadurch mittelbar den Erwerb schulischer Bildung beeinträchtigt. Diesen schwerwiegenden Beein­träch­ti­gungen des Rechts auf schulische Bildung standen bei Verabschiedung des Gesetzes im April 2021 Gemein­wohl­belange von überragender Bedeutung in Gestalt des Schutzes vor infek­ti­o­ns­be­dingten Gefahren von Leben und Gesundheit und der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Gesund­heits­systems gegenüber. Das Infek­ti­o­ns­ge­schehen war sehr dynamisch. Infektionen breiteten sich exponentiell aus. Die Zahl der an COVID-19 erkrankten Inten­siv­pa­tienten stieg deutlich an; es stand unmittelbar zu befürchten, dass eine Vielzahl von Krankenhäusern auf Notbetrieb umstellen und die Zahl planbarer Eingriffe weiter zurückfahren müsste. Gleichzeitig verbreiteten sich neue, infektiösere und tödlicher wirkende Virusvarianten rapide. Es musste damit gerechnet werden, dass die Nachverfolgung von Kontaktpersonen weithin nicht mehr möglich sein würde. Die Impfkampagne hatte erst begonnen.

Schul­schlie­ßungen gegenüber Gemeinwohl angemessen

In dieser Situation durfte der Gesetzgeber annehmen, dass zwischen­menschliche Kontakte an den maßgeblichen Kontaktorten umfassend „herun­ter­ge­fahren“ werden müssen, um Gefahren für Leben und Gesundheit und die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Gesund­heits­systems durch ein außer Kontrolle geratenes Infek­ti­o­ns­ge­schehen abwenden zu können. Insoweit ist das Verbot von Präsen­z­un­terricht Teil eines Gesamt­s­chutz­konzepts mit sich gegenseitig ergänzenden Maßnahmen. Die schwerwiegenden Beein­träch­ti­gungen des Rechts der Kinder und Jugendlichen auf schulische Bildung durch den wegfallenden Präsen­z­un­terricht standen nicht außer Verhältnis zu dem damit verfolgten überragend bedeutsamen Gemein­wohl­belang des Schutzes von Leben und Gesundheit; der Ausgleich der gegenläufigen Interessen war insgesamt angemessen. Das Gesetz gab nicht einseitig nur dem Gemein­wohl­belang Vorrang. Dem besonderen Gewicht des Präsen­z­un­ter­richts für die Vermittlung schulischer Bildung als einer Grundbedingung für die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu eigen­ver­ant­wort­lichen Persön­lich­keiten wurde dadurch Rechnung getragen, dass die Schulen - anders als andere Kontaktorte - nicht bereits bei Überschreiten einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100, sondern erst ab einem Wert von 165 geschlossen waren. Die Eingriff­sin­tensität des Verbots von Präsen­z­un­terricht wurde weiter dadurch gemindert, dass es den Ländern freistand, die Abschluss­klassen und die Förderschulen hiervon auszunehmen. Darüber hinaus konnten die Länder eine Notbetreuung auch zu dem Zweck einrichten, denjenigen Schülern die Teilnahme am Distan­z­un­terricht zu ermöglichen, die zuhause über keine geeignete Lernumgebung verfügten. Für die Zumutbarkeit der Schul­schlie­ßungen ist von maßgeblicher Bedeutung, dass die ersatzweise Durchführung von Distan­z­un­terricht im Grundsatz gewährleistet war.

Erfolgreiche Vermittlung von Fertigkeiten und Wissen auch durch Digital­un­terricht möglich

Nach sachkundiger Einschätzung können jedenfalls ab der Sekundarstufe und bei guter digitaler Ausstattung des Schulbetriebs sowie angepassten pädagogischen Konzepten zumindest Fertigkeiten und Wissen auch durch Digital­un­terricht erfolgreich vermittelt werden. Zwar konnte der Bundes­ge­setzgeber mangels schul­recht­licher Kompetenz nicht selbst dafür sorgen, dass die Eingriff­sin­tensität seiner Anordnung des Wegfalls von Präsen­z­un­terricht durch die Einrichtung von Distan­z­un­terricht abgemildert wird. Es bedurfte insoweit jedoch keines eigenständigen gesetzlichen Inter­es­se­n­aus­gleichs, weil die Länder bereits nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet sind, den für die Persön­lich­keits­ent­wicklung der Kinder und Jugendlichen unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung zu wahren. Wird dieser Mindeststandard wie hier aus überwiegenden Gründen des Schutzes von Leben und Gesundheit durch einen länger andauernden Wegfall des Präsenz­schul­be­triebs unterschritten, müssen die verbleibenden Möglichkeiten zur Wahrung dieses Standards genutzt werden. Daher mussten die Länder auch für die Dauer des bundes­ge­setzlich verfügten Verbots von Präsen­z­un­terricht dafür sorgen, dass nach Möglichkeit Distan­z­un­terricht stattfinden konnte. Soweit an einzelnen Schulen Distan­z­un­terricht nicht in nennenswertem Umfang vorgesehen war, obwohl dem keine durchgreifenden Hindernisse personeller, sächlicher oder organi­sa­to­rischer Art entgegenstanden, konnte jede Schülerin und jeder Schüler dieser Schulen auf der Grundlage des Rechts auf schulische Bildung entsprechende Vorkehrungen verlangen. Bei einer lange andauernden Gefahrenlage wie der Corona-Pandemie ist bei der Beurteilung der Zumutbarkeit anhaltender belastender Gefah­re­n­ab­wehr­maß­nahmen allerdings zu berücksichtigen, ob diese möglicherweise freiheits­scho­nender hätten ausgestaltet werden können, wenn der Staat an einer Verbesserung der wissen­schaft­lichen Erkenntnislage mitgewirkt hätte. Je länger belastende Regelungen in Kraft sind oder die Gefahrenlage andauert, umso fundierter müssen die Einschätzungen des Gesetzgebers sein, sofern genauere Kenntnisse hätten erlangt werden können. Indessen dürfte der Staat auch dann große Gefahren für Leib und Leben am Ende nicht deshalb in Kauf nehmen, weil er nicht genug zur Erforschung freiheits­scho­nender Alternativen beigetragen hat. Hingegen könnte etwa der Einwand, dass solche milderen Alternativen die Allgemeinheit finanziell stärker belasten, in der Abwägung an Gewicht verlieren.

Versäumnis des Staates hinsichtlich der Zumutbarkeit des Verbots nicht erkennbar

Ein bei der Beurteilung der Zumutbarkeit des Verbots von Präsen­z­un­terricht durch­schla­gendes Versäumnis des Staates bei der Erkennt­nis­ge­winnung kann hier nicht festgestellt werden. Zwar dauerte die Gefahrenlage bei Verabschiedung der „Bundesnotbremse“ im April 2021 bereits über ein Jahr an und es hätten erste Möglichkeiten bestanden, Daten an den Schulen zu erheben, aus denen möglicherweise Erkenntnisse für eine freiheits­scho­nendere Bekämpfung von Infektionen in diesem Bereich hätten gewonnen werden können. Angesichts des dynamischen Infek­ti­o­ns­ge­schehens mit der Verbreitung neuer Virusvarianten kann jedoch nicht ohne weiteres angenommen werden, dass bei einer früheren Datenerhebung bereits im April 2021 fundiert hätte beurteilt werden können, ob Infektionen durch Tests in geöffneten Schulen mindestens gleich wirksam hätten eingedämmt werden können wie durch Schul­schlie­ßungen. Es kommt hinzu, dass der Gesetzgeber mit § 5 Abs. 9 IfSG Vorsorge für eine auch staatlich verantwortete Evaluation der Wirksamkeit der verschiedenen Schutzmaßnahmen getroffen hat. Eine entsprechende Studie, die auch die Wirksamkeit der schulbezogenen Maßnahmen umfasst, wurde vom Robert-Koch-Institut bereits vor Verabschiedung der „Bundesnotbremse“ in Auftrag gegeben („StopptCOVID-Studie“). In einer lange andauernden Gefahrenlage wie der Corona-Pandemie ist bei der Beurteilung der Zumutbarkeit anhaltender belastender Gefah­re­n­ab­wehr­maß­nahmen ferner zu berücksichtigen, ob der Staat in einem von ihm verantworteten Bereich wie etwa den Schulen rechtzeitig zumutbare und sich in der Sache aufdrängende Vorkehrungen getroffen hat, um diese Maßnahmen freiheits­scho­nender gestalten zu können. Werden solche Vorkehrungen unterlassen, kann das Interesse der Betroffenen, von derart vermeidbaren Grund­rechts­be­ein­träch­ti­gungen verschont zu werden, bei der Abwägung mit gegenläufigen Gemein­wohl­be­langen zusätzliches Gewicht erlangen. Hier liegt nicht auf der Hand, dass bereits bis zum April 2021 an den Schulen flächendeckend Vorkehrungen hätten getroffen werden können, um Schul­schlie­ßungen möglichst zu verhindern. In Betracht kommende Vorkehrungen wie eine Verbesserung der Lüftungs­ver­hältnisse in den Klassenzimmern oder die Eröffnung von Optionen für die Nutzung größerer Räume zur Einhaltung von Abständen bedürfen mehr oder weniger aufwendiger Abstimmung, Planung und Umsetzung. Das gleiche gilt für die sich aufdrängende verstärkte Digitalisierung des Schulbetriebs und die Entwicklung darauf bezogener pädagogischer Konzepte, um Bildungs­verluste infolge wegfallenden Präsen­z­un­ter­richts durch einen nach Umfang und Qualität verbesserten Digital­un­terricht möglichst weitgehend vermeiden zu können. Bei den Lüftungsanlagen und mobilen Luftreinigern kommt hinzu, dass es nach sachkundiger Einschätzung noch Klärungsbedarf zur Wirksamkeit des Schutzes im Schulbetrieb gab. Der Bund hatte überdies bereits vor Verabschiedung der „Bundesnotbremse“ dafür gesorgt, dass für entsprechende Vorkehrungen notwendige öffentliche Mittel zur Verfügung stehen. Er hat den Ländern im Rahmen des „Digita­l­Pakt­Schule“ Finanzhilfen in Höhe von insgesamt 1,5 Milliarden Euro gewährt, um die infor­ma­ti­o­ns­tech­nischen Rahmen­be­din­gungen zur Durchführung von digitalem Distan­z­un­terricht zu verbessern. Im Rahmen eines Förderprogramms des Bundes stehen außerdem Mittel im Gesamtvolumen von 500 Millionen Euro zur Förderung von Luftrei­ni­gungs­anlagen unter anderem in Schulgebäuden zur Verfügung. Schließlich trug die kurzzeitige Befristung wesentlich dazu bei, dass der schwerwiegende Eingriff in das Recht auf schulische Bildung durch die Schul­schlie­ßungen noch zumutbar war. Die bei Verabschiedung der „Bundesnotbremse“ im April 2021 vertretbare gesetz­ge­be­rische Einschätzung einer besonderen Dringlichkeit und Gemein­wohl­be­deutung der Maßnahmen zur Einschränkung zwischen­mensch­licher Kontakte zum Schutz von Leben und Gesundheit stand von Anfang an unter dem Vorbehalt der weiteren Entwicklung. Es war offen, ob und wann es gelingen würde, die Dynamik des Infek­ti­o­ns­ge­schehens durch die Maßnahmen der „Bundesnotbremse“ zu durchbrechen und welche Rolle die Verbreitung neuer Virusvarianten hierbei spielen würde. Die Vorläufigkeit der verfas­sungs­recht­lichen Bewertung ergab sich insbesondere aus der damals beginnenden Impfkampagne. Der Gesetzgeber musste davon ausgehen, dass die Bedeutung der Schutzmaßnahmen bei einem Impfangebot an alle impffähigen Personen von erheblich geringerem Gewicht sein würde als bei Verabschiedung des Gesetzes. Das trifft im Besonderen für das Verbot von Präsen­z­un­terricht zu. Nach bisheriger sachkundiger Einschätzung erkranken die ungeimpften schul­pflichtigen Kinder - anders als noch nicht geimpfte Erwachsene - bei einer Infektion nur selten und im Regelfall nur dann schwer, wenn eine Vorerkrankung vorliegt. Daher musste der Gesetzgeber damit rechnen, dass das Verbot von Präsen­z­un­terricht bei einem allgemeinen Impfangebot allmählich seine Rechtfertigung verlieren könnte. Das gilt in noch stärkerem Maße hinsichtlich der durch das Verbot von Präsen­z­un­terricht besonders schwerwiegend betroffenen Schülerinnen und Schüler an Grundschulen. Durch die kurzzeitige Befristung der Maßnahme war gewährleistet, dass das Verbot von Präsen­z­un­terricht nicht über einen Zeitraum hinaus gelten würde, zu dem der schwerwiegende Eingriff in das Recht auf schulische Bildung nicht mehr gerechtfertigt sein könnte.

Auch kein Verstoß gegen das Familienrecht

Das Verbot von Präsen­z­un­terricht verstieß auch nicht gegen das Famili­en­grundrecht gemäß Art. 6 Abs. 1 GG. Den Eltern schul­pflichtiger Kinder stand aus dem Famili­en­grundrecht nach Art. 6 Abs. 1 GG kein Abwehrrecht gegen das Verbot von Präsen­z­un­terricht wegen der damit verbundenen zusätzlichen Betreu­ungs­leis­tungen oder sonstiger Belastungen des Familienlebens und der beruflichen Tätigkeit zu. Diese Belastungen sind nicht das Ergebnis eines mittelbar-faktischen Eingriffs in das Famili­en­grundrecht. Das allein der Eindämmung von Infektionen dienende Verbot von Präsen­z­un­terricht war nicht darauf ausgerichtet, das Familienleben der Eltern schul­pflichtiger Kinder oder deren Möglichkeiten zu beruflicher Tätigkeit zu ändern. Die Belastungen des Familienlebens waren daher nur eine ungewollte Nebenfolge der Schul­schlie­ßungen ohne eingriffs­recht­lichen Charakter. Die beschwer­de­füh­renden Eltern können auch keine Verletzung des staatlichen Förder- und Schutzgebots aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG geltend machen. Allerdings wiegen die Belastungen der Eltern schul­pflichtiger Kinder durch das Verbot von Präsen­z­un­terricht schwer. Die sachkundigen Dritten haben darauf hingewiesen, dass diese zahlreiche zusätzliche Aufgaben im Bereich von Bildung und Erziehung hätten übernehmen müssen, die üblicherweise von der Schule getragen werden. Der durch­schnittliche zeitliche Mehraufwand betrug nach Angaben des Bundesinstituts für Bevöl­ke­rungs­for­schung zwischen 1,3 und 2,3 Stunden pro Tag. Besonders belastet waren die Eltern betreu­ungs­be­dürftiger Kinder, die wegen des Schulzwangs kein Betreu­ungs­system aufgebaut hatten, das die wegfallende Betreuung im Präsenz­schul­betrieb hätte ersetzen können. Stark belastet waren nach sachkundigen Angaben zudem die Allein­er­zie­henden, bei denen die Schul­schlie­ßungen besonders große Betreu­ungs­lücken auslösten. Angesichts dieser Belastungen der Eltern schul­pflichtiger Kinder und wegen deren fehlender Möglichkeit, Vorsorge für den Fall von Schul­schlie­ßungen treffen zu können, ist der Staat aus dem Förder- und Schutzgebot aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG verpflichtet, die nachteiligen Folgen der Schul­schlie­ßungen für die Familien und die Teilhabe der Eltern am Arbeitsleben durch Maßnahmen zur Famili­en­för­derung auszugleichen. Dieser Pflicht wurde hinreichend Genüge getan. Zu nennen ist hier die den Ländern ermöglichte Einrichtung einer Notbetreuung, die insbesondere der Entlastung berufstätiger Eltern betreu­ungs­be­dürftiger Kinder dienen sollte. Um Eltern, die wegen der Betreuung ihrer Kinder nicht arbeiten konnten, gegen Einkom­men­s­einbußen abzusichern, konnten erwerbstätige Eltern zudem nach § 56 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 IfSG eine staatliche Entschädigung erhalten, wenn sie von Schul­schlie­ßungen aufgrund der „Bundesnotbremse“ betroffen waren. Des Weiteren wurde der Anspruch gesetzlich Versicherter auf Krankengeld (Verdien­st­ausfall wegen der Betreuung erkrankter Kinder) auf die Fälle erweitert, in denen Schulen geschlossen werden oder die Präsenzpflicht in einer Schule aufgehoben wird (§ 45 Abs. 2a Satz 3 SGB V).

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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