18.10.2024
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Sie sehen einen Teil der Glaskuppel und einen Turm des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Dokument-Nr. 7709

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Bundesverfassungsgericht Beschluss03.04.2009

"Komasaufprozess": Filmbe­rich­t­er­stattung von einem Strafverfahren: Während der Verhand­lungs­pausen und nach Ende der Sitzung darf gefilmt werdenBVerfG hebt sitzungs­po­li­zeiliche Anordnungen im Strafverfahren "Wetttrinken mit Jugendlichem" teilweise auf

Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) hatte mit einem Eilantrag vor dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht teilweise Erfolg, in dem es um die Bildbe­rich­t­er­stattung im so genannten "Koma-Saufprozess" ging.

Die Beschwer­de­führerin betreibt eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt. Sie berichtet seit Prozessauftakt in ihrem Fernsehprogramm über ein Strafverfahren am Landgericht Berlin. Das Strafverfahren richtet sich gegen den früheren Gastwirt einer Berliner Gaststätte. Ihm wird vorgeworfen, fährlässig den Tod eines 16-jährigen Jugendlichen durch ein sog. Wetttrinken verursacht zu haben. Er soll sich selbst während dieses Wetttrinkens - anders als dem Geschädigten - teilweise Wasser statt Tequila serviert haben lassen. Das Geschehen und das sich anschließende Strafverfahren fanden in der Öffentlichkeit im Zuge der Diskussion um das gesell­schaftliche Problem des "Koma-Saufens" Jugendlicher bundesweite Beachtung und ein erhebliches Medieninteresse.

Der Vorsitzende der Strafkammer 22 des Landgerichts Berlin erließ zur Vorbereitung und im Rahmen des Strafverfahrens verschiedene sitzungs­po­li­zeiliche Anordnungen. Darin ordnete er unter anderem an, dass an den Verhand­lungstagen im Gerichtssaal und im davor liegenden Sicher­heits­bereich Film- und Tonaufnahmen sowie Fotoaufnahmen vor Beginn der Haupt­ver­handlung angefertigt werden dürfen. Die Anfertigung solcher Aufnahmen in den Verhand­lungs­pausen und nach Ende der Sitzung wurde dagegen untersagt. Eine spätere Verfügung gestattete dem Angeklagten und seinem Verteidiger von Beginn der Haupt­ver­handlung dann, den Sitzungssaal durch einen Gefan­ge­nen­aufgang zu betreten. Weiterhin ordnete der Vorsitzende an, dass Bildaufnahmen vom Angeklagten nur in anonymisiertem Zustand veröffentlicht werden dürfen und im Falle der Zuwiderhandlung den betreffenden Medienorganen die Anfertigung von Bildaufnahmen untersagt wird. Darüber hinaus stellte er fest, dass der Angeklagte und sein Verteidiger nicht gezwungen werden, sich vor Aufruf der Sache im Sitzungssaal aufzuhalten und sich Foto- oder Filmaufnahmen zu stellen. Die Beschwer­de­führerin wendet sich mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde und ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen diese sitzungs­po­li­zei­lichen Anordnungen.

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts setzte die Verfügungen im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfas­sungs­be­schwerde in der Hauptsache, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten, in ihrer Wirksamkeit aus, soweit darin die Anfertigung von Bild- und Fernse­h­auf­nahmen während der Verhand­lungs­pausen und nach Ende der Sitzungen untersagt wird. Im Übrigen lehnte die Kammer den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Bei der im Rahmen einer einstweiligen Anordnung gebotenen Folgenabwägung überwiegt das Interesse der Beschwer­de­führerin an einer Berich­t­er­stattung, soweit der Vorsitzende über die Anony­mi­sie­rungs­a­n­ordnung hinaus eine Verfah­rens­ge­staltung gewählt hat, die im Ergebnis das Anfertigen jeglicher Fernsehbilder vom Angeklagten und seinem Verteidiger unterbindet. Allerdings führt die Folgenabwägung auch zu einem Überwiegen der drohenden Beein­träch­ti­gungen des Angeklagten gegenüber der Beschränkung der Berich­t­er­stattung, soweit die Anonymisierung von ihm gefertigter Lichtbilder in Rede steht.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich aber die Verfas­sungs­be­schwerde als begründet, so könnte eine Fernseh­bild­be­rich­t­er­stattung über das Strafverfahren nur äußerst begrenzt stattfinden. Nicht nur die Untersagung der Bildbe­rich­t­er­stattung am Rande der Haupt­ver­handlung - wie hier in Pausen und am Ende der Sitzungen - kann die Rundfunk­freiheit berühren, sondern auch die Art der Verhand­lungs­führung, soweit sie auf die Verwirklichung der Pressefreiheit und die Möglichkeit der Befriedigung eines Infor­ma­ti­o­ns­in­teresses der Öffentlichkeit zurückwirkt. Das ist hier durch die Ermöglichung des Zugangs des Angeklagten und seines Verteidigers durch einen besonderen Eingang nach Eröffnung der Haupt­ver­handlung der Fall. Darüber hinaus kann auch in der Anordnung einer Anonymisierung gefertigter Fernsehbilder vom Angeklagten eine gewichtige Beschränkung von Infor­ma­ti­o­ns­mög­lich­keiten der Öffentlichkeit liegen.

Bei der Gewichtung der Nachteile ist in Bezug auf die Pressefreiheit nicht nur die Schwere der Tat, sondern auch die öffentliche Aufmerksamkeit zu berücksichtigen, die das Strafverfahren etwa aufgrund besonderer Umstände und Rahmen­be­din­gungen gewonnen hat. Die besonderen Umstände der hier in Rede stehenden Straftat sowie die über diese konkrete Tat hinausreichende aktuelle öffentliche Diskussion um den übermäßigen Alkoholgenuss Jugendlicher begründen ein gewichtiges Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse der Öffentlichkeit an dem in Rede stehenden Strafverfahren. Daneben führen die Verwerflichkeit der dem Angeklagten vorgeworfenen Tat, ihre besonderen Umstände sowie ihre schweren Folgen zu einem gesteigerten Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse auch an der Person des Angeklagten und seines Verteidigers.

Mit den angegriffenen Maßnahmen wird zwar die Berich­t­er­stattung über das Gerichts­ver­fahren in fernseh­ty­pischer Weise durch aktuelle Film- und Tonaufnahmen aus dem Gerichtssaal in Anwesenheit der Verfah­rens­be­tei­ligten am Rande der mündlichen Verhandlung nicht vollständig untersagt. Die dabei auferlegten Beschränkungen der Bildbe­rich­t­er­stat­tungs­mög­lich­keiten stellten angesichts des aufgezeigten Berich­t­er­stat­tungs­in­teresses aber einen Nachteil von erheblichem Gewicht dar. In Zusammenwirken mit dem Ausschluss der Bildbe­rich­t­er­stattung in Pausen und am Ende der Sitzungen wird es der Beschwer­de­führerin unmöglich gemacht, Fernsehbilder vom Angeklagten und seinem Verteidiger anzufertigen. Die dieses herbeiführenden Maßnahmen können nicht isoliert betrachtet werden, sondern bilden auch nach dem Willen des Vorsitzenden eine Einheit, die darauf gerichtet ist, eine Bildbe­rich­t­er­stattung vom Angeklagten und seinem Verteidiger insgesamt zu unterbinden. Hierin liegen eine gewichtige Beschränkung von Infor­ma­ti­o­ns­mög­lich­keiten der Öffentlichkeit und zugleich ein schwerer Nachteil im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG.

Erginge die einstweilige Anordnung dagegen im beantragten Umfang, erwiese sich die Verfas­sungs­be­schwerde aber später als unbegründet, wären Filmaufnahmen vom Angeklagten und seinem Verteidiger im Umkreis des Strafverfahrens gefertigt und verbreitet worden, auf die weder die Beschwer­de­führerin noch die Öffentlichkeit Anspruch hatten. Die hieraus nach dem bisherigen Sachstand zu erwartenden Nachteile für den geordneten Ablauf der Sitzung sowie für das Persön­lich­keitsrecht des Angeklagten und seines Verteidigers wiegen indes nicht so schwer, als dass sie eine Beschränkung der Bildbe­rich­t­er­stattung über die Anordnung der Anonymisierung vom Angeklagten gefertigter Aufzeichnungen hinaus rechtfertigten, die jegliche Möglichkeit der Presse, vom Angeklagten und seinem Verteidiger Fernsehbilder anzufertigen, unterbindet.

Dagegen überwiegt das Interesse der Beschwer­de­führerin an einer Berich­t­er­stattung, soweit der Vorsitzende über die Anony­mi­sie­rungs­a­n­ordnung hinaus eine Verfah­rens­ge­staltung gewählt hat, die bereits das Anfertigen jeglicher Fernsehbilder vom Angeklagten und seinem Verteidiger verhindert. Nach dem bisher erkennbaren Sachstand sind keine Umstände für eine Gefährdung des Persön­lich­keits­rechts des Angeklagten oder seines Verteidigers beziehungsweise für eine Gefährdung für den ungestörten Verfah­rens­ablauf erkennbar, deren Abwehr eine solch weitgehende Einschränkung der Bildbe­rich­t­er­stat­tungs­mög­lich­keiten als geboten erscheinen lassen.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

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