23.11.2024
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Dokument-Nr. 2562

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Bundesverfassungsgericht Beschluss24.05.2005

Bei mehrdeutigen Äußerungen wie "Kinder-Mord" oder "Babycaust" keine SanktionenKein Unter­las­sungs­an­spruch eines Abtrei­bungs­arztes

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat erneut klargestellt, dass sich die verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben für die Deutung mehrdeutiger Tatsa­chen­be­haup­tungen oder Werturteile grundlegend unterscheiden, je nach dem, ob die nachträgliche Sanktionierung schon erfolgter Äußerungen oder allein deren zukunfts­ge­richtete Abwehr in Frage steht.

Im Oktober 1997 verteilten zwei Abtrei­bungs­gegner Flugblätter auf dem Gelände des Klinikums N. Auf der Vorderseite des Flugblatts wurde ein Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, der seine auf Schwan­ger­schafts­ab­brüche spezialisierte Praxis als rechtlich selbständigen Betrieb auf dem Gelände des Klinikums führt, namentlich benannt. Auf der Rückseite des Flugblatts findet sich unter anderem folgender Text: „Stoppen Sie den Kinder-Mord im Mutterschoß auf dem Gelände des Klinikums, damals: Holocaust – heute: Babycaust“. Im Rahmen eines zivil­ge­richt­lichen Rechtsstreits nahm der Arzt die beiden Abtrei­bungs­gegner auf Unterlassung der Verbreitung der Aussagen auf dem Flugblatt in Anspruch. Das Oberlan­des­gericht gab dem Unterlassungsanspruch nicht statt. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte überwiegend Erfolg.

Die Abtrei­bungs­gegner wurden wegen Beleidigung des Arztes und der Klinikträgerin zu einer Geldstrafe verurteilt. Ihre Verfas­sungs­be­schwerde war teilweise erfolgreich.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Unter­las­sungsklage des Arztes

Das Oberlan­des­gericht sieht in der Äußerung „Kinder-Mord im Mutterschoß“ nachvollziehbar eine mehrdeutige Aussage. Bei deren Deutung geht es allerdings davon aus, dass der Begriff des „Mordes“ nicht im rechts­tech­nischen Sinne, sondern im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs zu verstehen sei und daher ein Unter­las­sungs­an­spruch nicht bestehe. Dabei verkennt es, dass die verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben für die Deutung mehrdeutiger Äußerungen sich grundlegend unterscheiden, je nach dem, ob die nachträgliche Sanktionierung schon erfolgter Äußerungen oder allein deren zukunfts­ge­richtete Abwehr in Frage steht.

Allein für nachträglich an eine Äußerung anknüpfende rechtliche Sanktionen – wie eine strafrechtliche Verurteilung oder die zivil­ge­richtliche Verurteilung zum Widerruf oder zum Schadensersatz – gilt im Interesse der Meinungsfreiheit, insbesondere zum Schutz vor Einschüch­te­rungs­ef­fekten bei mehrdeutigen Äußerungen, der Grundsatz, dass die Sanktion nur in Betracht kommt, wenn die dem Äußernden günstigeren Deutungs­mög­lich­keiten mit hinreichender Begründung ausgeschlossen worden sind. Steht demgegenüber ein zukunfts­ge­richteter Anspruch auf Unterlassung künftiger Persön­lich­keits­be­ein­träch­ti­gungen in Frage, wird die Meinungs­freiheit nicht verletzt, wenn von dem Betroffenen im Interesse des Persön­lich­keits­schutzes anderer verlangt wird, den Inhalt seiner mehrdeutigen Aussage gegebenenfalls klarzustellen. Geschieht dies nicht, sind die nicht fern liegenden Deutungs­mög­lich­keiten zu Grunde zu legen und es ist zu prüfen, ob die Äußerung in einer oder mehrerer dieser Deutungs­va­rianten zu einer rechtswidrigen Beein­träch­tigung des Persön­lich­keits­rechts führt. Diese Grundsätze sind nicht auf Tatsa­che­n­aussagen begrenzt, sondern ebenso maßgeblich, wenn wie vorliegend ein das Persön­lich­keitsrecht beein­träch­ti­gendes Werturteil in Frage steht.

Nach diesen verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben musste das Oberlan­des­gericht im Rahmen des Unter­las­sungs­be­gehrens auch die andere mögliche Auslegung zu Grunde legen, nämlich die, dass „Mord“ im rechts­tech­nischen Sinne zu verstehen war. Dasselbe gilt für den gegen den Arzt gerichteten Vergleich zwischen natio­nal­so­zi­a­lis­tischem Holocaust und dem ihm angelasteten „Babycaust“. Auch insoweit handelt es sich um eine mehrdeutige Äußerung. Sie konnte nicht nur als Vorwurf einer verwerflichen Massentötung menschlichen Lebens verstanden werden, sondern auch im Sinne einer unmittelbaren Gleichsetzung von natio­nal­so­zi­a­lis­tischem Holocaust und der als „Babycaust“ umschriebenen Tätigkeit des Beschwer­de­führers.

2. Verurteilung der Abtrei­bungs­gegner

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte fest, dass die Verurteilung der Abtrei­bungs­gegner wegen Beleidigung des Arztes verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden sei. Nicht tragfähig seien jedoch die Erwägungen des Gerichts dazu, dass auch eine Beleidigung zum Nachteil der Klinikträgerin verwirklicht worden sei. Das Gericht hätte klären müssen, ob sich die Äußerung auf die Klinikträgerin oder auf die im Klinikum tätigen Einzelpersonen bezogen habe, da beide Formen der Beleidigung unter­schied­lichen verfas­sungs­recht­lichen Begrün­dungs­an­for­de­rungen unterliegen. Bejahe das Gericht Mehrdeutigkeit, müsse es die für die Beschuldigten günstigere Deutung der straf­recht­lichen Beurteilung zu Grunde legen.

Erläuterungen

siehe auch Abtreibung ist kein "Babycaust"

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 55/06 des BVerfG vom 22.06.2006

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