18.10.2024
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Sie sehen einen Teil der Glaskuppel und einen Turm des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Dokument-Nr. 16489

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Beschluss17.07.2013Bundesverfassungsgericht1 BvR 3167/08
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2013, 3086Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2013, Seite: 3086
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Vorinstanzen zu dem Aktenzeichen 1 BvR 3167/08::
  • Landgericht Nürnberg-Fürth, Urteil26.05.2008, 11 O 9725/07
  • Oberlandesgericht Nürnberg, Beschluss02.10.2008, 8 U 1300/08
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss17.07.2013

Bundes­ver­fassungs­gericht zum Datenschutz im privaten Versi­che­rungsrechtVersicherte müssen Möglichkeit zur infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung bei Schwei­ge­pflichts­entbindungen haben

Eine versicherungs­vertragliche Obliegenheit zur Schweigepflicht­entbindung muss hinreichend eng ausgelegt werden, um dem Versicherten die Möglichkeit zur infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung zu bieten. Soweit keine gesetzlichen Regelungen über die informationelle Selbst­be­stimmung greifen, kann es zur Gewährleistung eines schonenden Ausgleichs der verschiedenen Grundrechts­positionen geboten sein, zum Beispiel durch eine verfahrens­rechtliche Lösung im Dialog zwischen Versichertem und Versicherer die zur Abwicklung des Versi­che­rungsfalls erforderlichen Daten zu ermitteln. Die Anforderungen an diesen Dialog festzulegen und ihn auszugestalten, zählt zu den Aufgaben der Zivilgerichte. Dies entschied das Bundes­ver­fassungs­gericht.

In dem zugrunde liegenden Fall schloss die Beschwer­de­führerin mit der Beklagten des Ausgangs­ver­fahrens, einem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen, einen Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Nach deren Tarif­be­din­gungen hatte der Versicherte bei der Beantragung von Versi­che­rungs­leis­tungen unter anderem behandelnde Ärzte, Krankenhäuser und sonstige Kranke­n­an­stalten sowie Pflegepersonen, andere Perso­nen­ver­si­cherer und Behörden zu ermächtigen, dem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen auf Verlangen Auskunft zu geben. Die Beschwer­de­führerin beantragte unter Verweis auf Berufsunfähigkeit aufgrund von Depressionen Versi­che­rungs­leis­tungen. Dabei lehnte sie ab, die auf dem Antragsformular der Beklagten abgedruckte Schweigepflichtentbindungserklärung, die zur Einholung sachdienlicher Auskünfte bei einem weiten Kreis von Stellen ermächtigt hätte, abzugeben und bot stattdessen an, Einze­ler­mäch­ti­gungen für jedes Auskunftsersuchen zu erteilen. Daraufhin übersandte die Beklagte der Beschwer­de­führerin vorformulierte Erklärungen zur Schweigepflichtentbindung ihrer Krankenkasse, zweier Ärztinnen und ihrer Renten­ver­si­cherung, die die verschiedenen Stellen „umfassend“ zur Auskunftserteilung über „Gesund­heits­ver­hältnisse, Arbeits­un­fä­hig­keits­zeiten und Behand­lungsdaten“ sowie im Fall der Renten­ver­si­cherung über die „berufliche Situation“ ermächtigen sollten. Die Beschwer­de­führerin lehnte die Unterzeichnung ab und bat um weitere Konkretisierung der gewünschten Auskünfte. Dem kam die Beklagte nicht nach.

Klage auf Zahlung der monatlichen Rente blieb erfolglos

Die Klage der Beschwer­de­führerin auf Zahlung der monatlichen Rente wiesen die Zivilgerichte ab. Der Beschwer­de­führerin sei zumutbar gewesen, die Einze­ler­mäch­ti­gungen vor der Unterzeichnung selbst weiter einzuschränken oder die in den Einze­ler­mäch­ti­gungen genannten Unterlagen selbst zu beschaffen und der Beklagten vorzulegen.

Gerichtliche Entscheidungen verletzten Beschwer­de­führerin in ihrem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht

Die gerichtlichen Entscheidungen verletzen die Beschwer­de­führerin in ihrem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persön­lich­keitsrecht in seiner Ausprägung als Recht der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung.

Gesetzgeber trifft Regelung zum Schutz der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung der Versi­che­rungs­nehmer

Aus dem Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung folgt eine Schutzpflicht des Staates. Kann in einem Vertrags­ver­hältnis ein Partner den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grund­rechts­po­si­tionen der beteiligten Parteien hinzuwirken. Zwar hat der Gesetzgeber inzwischen in § 213 VVG eine Regelung zum Schutz der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung der Versi­che­rungs­nehmer getroffen; diese Vorschrift findet jedoch auf den zu entscheidenden Altfall noch keine Anwendung. Daher oblag es in diesem Fall den Gerichten selbst, das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung durch einen angemessenen Ausgleich mit dem Offen­ba­rungs­in­teresse des Versi­che­rungs­un­ter­nehmens zu gewährleisten. Dazu sind die gegenläufigen Belange im Rahmen einer umfassenden Abwägung gegen­über­zu­stellen. Das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen muss einerseits den Eintritt des Versi­che­rungsfalls prüfen können, anderseits muss aber die Übermittlung von persönlichen Daten auf das hierfür Erforderliche begrenzt bleiben. Allerdings ist es dem Versicherer oft nicht möglich, im Voraus alle Informationen zu beschreiben, auf die es für die Überprüfung des Leistungsfalls ankommen kann. Soweit keine gesetzlichen Regelungen zur infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung greifen, kann es zur Gewährleistung eines schonenden Ausgleichs der verschiedenen Grund­rechts­po­si­tionen geboten sein, zum Beispiel durch eine verfah­rens­rechtliche Lösung im Dialog zwischen Versichertem und Versicherer die zur Abwicklung des Versi­che­rungsfalls erforderlichen Daten zu ermitteln. Die Anforderungen an diesen Dialog festzulegen und ihn auszugestalten, zählt zu den Aufgaben der Zivilgerichte. Versicherte einer Berufs­un­fä­hig­keits­ver­si­cherung können nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, einen Vertragsschluss zu unterlassen oder die Leistungs­freiheit des Versicherers hinzunehmen.

Angegriffene Entscheidungen werden verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht gerecht

Diesen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an einen hinreichenden Ausgleich zwischen den betroffenen Grund­rechts­po­si­tionen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Sie tragen den Belangen der Beschwer­de­führerin nicht hinreichend Rechnung.

Vorformulierte Einze­ler­mäch­ti­gungen sehr allgemein gehalten

Durch die vorformulierten Einze­ler­mäch­ti­gungen würde der Beklagten ermöglicht, auch über das für die Abwicklung des Versi­che­rungsfalls erforderliche Maß hinaus in weitem Umfang Informationen über die Beschwer­de­führerin einzuholen. Die benannten Gegenstände der „umfassenden“ Auskünfte - etwa „Gesund­heits­ver­hältnisse, Arbeits­un­fä­hig­keits­zeiten und Behand­lungsdaten“ - sind so allgemein gehalten, dass sie kaum zu einer Begrenzung des Auskunft­s­umfangs führen. Erfasst werden nahezu alle bei den benannten Auskunfts­stellen über die Beschwer­de­führerin vorliegenden Informationen, darunter auch viele für die Abwicklung des Versi­che­rungsfalls bedeutungslose Informationen.

Möglicher Leistungs­verlust durch selbst modifizierte Ermächtigungen

Der Beschwer­de­führerin ist, entgegen den angegriffenen Entscheidungen, nicht zuzumuten die vorformulierten Einze­ler­mäch­ti­gungen selbst zu modifizieren oder die erforderlichen Unterlagen eigenständig vorzulegen. Denn damit würde der Beschwer­de­führerin auferlegt, die Interessen des Versi­che­rungs­un­ter­nehmens zu erforschen, und für den Fall, dass die vorgelegten Unterlagen oder die modifizierten Ermächtigungen für unzureichend erachtet würden, mit dem Risiko eines Leistungs­verlusts belastet. Dieser Weg ist nicht geeignet, ihr Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung im Dialog mit dem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen zu gewährleisten.

Keine unver­hält­nis­mäßige Belastung des beklagten Versi­che­rungs­un­ter­nehmens durch weitere Einschränkung der Einze­ler­mäch­ti­gungen

Die angegriffenen Entscheidungen lassen beim Ausgleich der Grund­rechts­po­si­tionen unberück­sichtigt, dass es das beklagte Versi­che­rungs­un­ter­nehmen nicht unver­hält­nismäßig belasten muss, wenn von ihm eine weitere Einschränkung der geforderten Einze­ler­mäch­ti­gungen verlangt wird. Zwar kann der Umfang der Einze­ler­mäch­ti­gungen dabei nicht vornherein schon auf die für die Prüfung des Leistungs­an­spruchs relevanten Informationen begrenzt werden. Wird die Schwei­ge­pflich­tent­bindung aber zunächst auf solche Vorin­for­ma­tionen beschränkt, die ausreichen, um festzustellen, welche Informationen tatsächlich für die Prüfung des Leistungsfalls relevant sind, könnte so der Umfang der überschießenden Informationen begrenzt und damit dem Recht der Beschwer­de­führerin auf informationelle Selbst­be­stimmung Rechnung getragen werden. Die Verfah­ren­s­ef­fizienz würde durch eine solche grobe Konkretisierung der Auskunfts­ge­gen­stände nur geringfügig beeinträchtigt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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