18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss23.10.2006

Versi­che­rungs­ver­trag­licher Schwei­ge­pflich­tent­bindung muss widersprochen werden dürfenRecht auf informationelle Selbst­be­stimmung darf nicht verletzt werden

Beim Abschluss vom Berufs­un­fä­hig­keits­ver­si­che­rungen dürfen Versi­che­rungs­un­ter­nehmen nicht von ihren Kunden verlangen, dass sie pauschal z.B. Ärzte, Krankenhäuser und Behörden von der Schweigepflicht entbinden. Das hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Ein Versicherter muss die Möglichkeit haben, die Daten-Weitergabe kontrollieren zu können.

Die Beschwer­de­führerin schloss mit einem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen einen Lebens­ver­si­che­rungs­vertrag mit Berufs­un­fä­higkeits-Zusatz­ver­si­cherung ab. Nach den Versi­che­rungs­be­din­gungen des Unternehmens hat der Versicherte, wenn er Versi­che­rungs­leis­tungen beantragt, Ärzte, Krankenhäuser, sonstige Kranke­n­an­stalten, Pflegeheime, bei denen er in Behandlung oder Pflege war oder sein wird, sowie Pflegepersonen, andere Perso­nen­ver­si­cherer und Behörden zu ermächtigen, dem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen auf Verlangen Auskunft zu geben. 1999 beantragte die Beschwer­de­führerin, die wegen Dienst­un­fä­higkeit in den Ruhestand versetzt worden war, Leistungen aus der Berufs­un­fä­higkeits-Zusatz­ver­si­cherung. Dabei lehnte sie es ab, die vom Versi­che­rungs­un­ter­nehmen verlangte Schwei­ge­pflich­tent­bindung abzugeben und bot stattdessen an, Einze­ler­mäch­ti­gungen für jedes Auskunft­s­er­suchen zu erteilen. Das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen teilte daraufhin mit, dass es auf dieser Grundlage den Versi­che­rungsfall nicht feststellen könne. Die Klage der Beschwer­de­führerin auf Feststellung, dass das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen nicht berechtigt sei, die Abgabe einer Schwei­ge­pflich­tent­bindung zu verlangen, wurde von den Fachgerichten abgewiesen.

Die hiergegen gewandte Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob die angegriffenen Urteile des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts auf, da sie die Beschwer­de­führerin in ihrem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht in seiner Ausprägung als Recht der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung verletzen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Zwischen der Beschwer­de­führerin und dem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen bestand bei Abschluss des Versi­che­rungs­vertrags ein derart erhebliches Verhand­lungs­un­gleich­gewicht, dass die Beschwer­de­führerin ihren infor­ma­ti­o­nellen Selbstschutz nicht eigen­ver­ant­wortlich und selbstständig sicherstellen konnte. Die Vertrags­be­din­gungen der Versicherer sind praktisch nicht verhandelbar. Die Versi­che­rungs­nehmer können hinsichtlich der Berufs­un­fä­higkeits- Zusatz­ver­si­cherung zwar die Produkte verschiedener Versicherer im Hinblick auf die – teilweise erheblich voneinander abweichenden – Vertrags­be­din­gungen vergleichen. Dass ein Wettbewerb über die daten­schutz­recht­lichen Konditionen im Versi­che­rungsfall stattfände, ist aber nicht ersichtlich. Der Versi­che­rungs­nehmer einer Berufs­un­fä­hig­keits­ver­si­cherung kann nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, um des infor­ma­ti­o­nellen Selbstschutzes willen einen Vertragsschluss zu unterlassen. Angesichts des gegenwärtigen Niveaus gesetzlich vorgesehener Leistungen im Fall der Berufs­un­fä­higkeit sind die meisten Berufstätigen auf eigene Vorsorge, insbesondere darauf angewiesen, für diesen Fall durch den Abschluss eines entsprechenden Versi­che­rungs­vertrags privat vorzusorgen, um ihren Lebensstandard zu sichern. Hat in einem Vertrags­ver­hältnis ein Partner ein solches Gewicht, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grund­rechts­po­si­tionen beider Vertragspartner hinzuwirken. Dazu sind die gegenläufigen Belange einander im Rahmen einer umfassenden Abwägung gegen­über­zu­stellen.

2. Die Annahme der erkennenden Gerichte, die versi­che­rungs­ver­tragliche Obliegenheit zur Schwei­ge­pflich­tent­bindung ordne in der gefundenen Auslegung die gegenläufigen Belange von Versi­che­rungs­un­ter­nehmen und Versichertem einander in angemessenem Verhältnis zu, steht mit den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben nicht in Einklang.

a) Wenn die Versicherung von der Beschwer­de­führerin die Abgabe der begehrten Schwei­ge­pflich­tent­bindung verlangen kann, wird deren Interesse an wirkungsvollem infor­ma­ti­o­nellem Selbstschutz in erheblichem Ausmaß beeinträchtigt. Die in der formularmäßigen Erklärung genannten, zum Teil sehr allgemein umschriebenen Personen und Stellen können über sensible Informationen über die Beschwer­de­führerin verfügen, die deren Persön­lich­keits­ent­faltung tief greifend berühren. Mit der Schwei­ge­pflich­tent­bindung begibt sich die Beschwer­de­führerin auch der Möglichkeit, die Wahrung ihrer Geheim­hal­tungs­in­teressen selbst zu kontrollieren, da wegen der weiten Fassung der Erklärung für sie praktisch nicht absehbar ist, welche Auskünfte über sie von wem eingeholt werden können. Das Gewicht der Inter­es­sen­be­ein­träch­tigung wird nicht dadurch gemindert, dass von der Beschwer­de­führerin lediglich verlangt wurde, ihr Einverständnis zur Erhebung sachdienlicher Informationen zu erklären. Aufgrund der Weite des Begriffs der Sachdien­lichkeit kann der Versi­che­rungs­nehmer nicht im Voraus bestimmen, welche Informationen aufgrund der Ermächtigung erhoben werden können.

b) Dem Interesse der Beschwer­de­führerin an infor­ma­ti­o­neller Selbst­be­stimmung steht ein Offen­ba­rungs­in­teresse der Versicherung von gleichfalls erheblichem Gewicht gegenüber. Es ist für das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen von hoher Bedeutung, den Eintritt des Versi­che­rungsfalls überprüfen zu können. Diesem Interesse genügt allein die Obliegenheit, bereits mit dem Leistungsantrag Angaben zum Versi­che­rungsfall zu machen und zu belegen, nicht in jedem Fall.

c) Die erkennenden Gerichte haben nicht hinreichend geprüft, ob dem Überprü­fungs­in­teresse des Versicherers auch in einer Weise genügt werden kann, die die Beschwer­de­führerin in die Lage versetzt, ihr Interesse wirksam wahrzunehmen. Es liegt nicht auf der Hand, dass es für das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen unmöglich oder unzumutbar ist, bestimmte Aufklä­rungs­maß­nahmen im Voraus zu beschreiben und dem Versi­che­rungs­nehmer vorzulegen. Wenn es aufgrund eines solchen Vorgehens zu Verzögerungen bei der Bearbeitung des Leistungs­antrags kommen sollte, schadet das in erster Linie der Beschwer­de­führerin als Versi­che­rungs­nehmerin und nicht dem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen. Selbst wenn von der Annahme ausgegangen wird, das von der Beschwer­de­führerin vorgeschlagene Verfahren, Einze­ler­mäch­ti­gungen einzuholen, verursache einen unangemessenen Aufwand, hätten die erkennenden Gerichte in Erwägung ziehen müssen, ob andere Vorgehensweisen in Betracht kommen, die das Selbst­schut­z­in­teresse der Beschwer­de­führerin wahren. So könnte das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen im Zusammenhang mit der Mitteilung, welche Infor­ma­ti­o­ns­er­he­bungen beabsichtigt sind, dem Versicherten die Möglichkeit zur Beschaffung der Informationen oder jedenfalls eine Wider­spruchs­mög­lichkeit einräumen.

d) Im Übrigen bestehen keine verfas­sungs­recht­lichen Bedenken dagegen, eine Schwei­ge­pflich­tent­bindung wie die hier umstrittene vorzusehen und dem Versicherten die denkbaren Alternativen freizustellen. Dem Versicherten muss allerdings die Möglichkeit zu infor­ma­ti­o­nellem Selbstschutz geboten werden, die er auch ausschlagen kann. Es wäre verfas­sungs­rechtlich auch unbedenklich, den Versicherten die Kosten tragen zu lassen, die durch einen besonderen Aufwand bei der Bearbeitung seines Leistungs­antrags entstehen. Die damit verbundene Kostenlast darf allerdings nicht so hoch sein, dass sie einen infor­ma­ti­o­nellen Selbstschutz unzumutbar macht.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 110/06 des BVerfG vom 10.11.2006

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