21.11.2024
21.11.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss23.10.2006

Versi­che­rungs­ver­trag­licher Schwei­ge­pflich­tent­bindung muss widersprochen werden dürfenRecht auf informationelle Selbst­be­stimmung darf nicht verletzt werden

Beim Abschluss vom Berufs­un­fä­hig­keits­ver­si­che­rungen dürfen Versi­che­rungs­un­ter­nehmen nicht von ihren Kunden verlangen, dass sie pauschal z.B. Ärzte, Krankenhäuser und Behörden von der Schweigepflicht entbinden. Das hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Ein Versicherter muss die Möglichkeit haben, die Daten-Weitergabe kontrollieren zu können.

Die Beschwer­de­führerin schloss mit einem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen einen Lebens­ver­si­che­rungs­vertrag mit Berufs­un­fä­higkeits-Zusatz­ver­si­cherung ab. Nach den Versi­che­rungs­be­din­gungen des Unternehmens hat der Versicherte, wenn er Versi­che­rungs­leis­tungen beantragt, Ärzte, Krankenhäuser, sonstige Kranke­n­an­stalten, Pflegeheime, bei denen er in Behandlung oder Pflege war oder sein wird, sowie Pflegepersonen, andere Perso­nen­ver­si­cherer und Behörden zu ermächtigen, dem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen auf Verlangen Auskunft zu geben. 1999 beantragte die Beschwer­de­führerin, die wegen Dienst­un­fä­higkeit in den Ruhestand versetzt worden war, Leistungen aus der Berufs­un­fä­higkeits-Zusatz­ver­si­cherung. Dabei lehnte sie es ab, die vom Versi­che­rungs­un­ter­nehmen verlangte Schwei­ge­pflich­tent­bindung abzugeben und bot stattdessen an, Einze­ler­mäch­ti­gungen für jedes Auskunft­s­er­suchen zu erteilen. Das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen teilte daraufhin mit, dass es auf dieser Grundlage den Versi­che­rungsfall nicht feststellen könne. Die Klage der Beschwer­de­führerin auf Feststellung, dass das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen nicht berechtigt sei, die Abgabe einer Schwei­ge­pflich­tent­bindung zu verlangen, wurde von den Fachgerichten abgewiesen.

Die hiergegen gewandte Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob die angegriffenen Urteile des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts auf, da sie die Beschwer­de­führerin in ihrem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht in seiner Ausprägung als Recht der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung verletzen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Zwischen der Beschwer­de­führerin und dem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen bestand bei Abschluss des Versi­che­rungs­vertrags ein derart erhebliches Verhand­lungs­un­gleich­gewicht, dass die Beschwer­de­führerin ihren infor­ma­ti­o­nellen Selbstschutz nicht eigen­ver­ant­wortlich und selbstständig sicherstellen konnte. Die Vertrags­be­din­gungen der Versicherer sind praktisch nicht verhandelbar. Die Versi­che­rungs­nehmer können hinsichtlich der Berufs­un­fä­higkeits- Zusatz­ver­si­cherung zwar die Produkte verschiedener Versicherer im Hinblick auf die – teilweise erheblich voneinander abweichenden – Vertrags­be­din­gungen vergleichen. Dass ein Wettbewerb über die daten­schutz­recht­lichen Konditionen im Versi­che­rungsfall stattfände, ist aber nicht ersichtlich. Der Versi­che­rungs­nehmer einer Berufs­un­fä­hig­keits­ver­si­cherung kann nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, um des infor­ma­ti­o­nellen Selbstschutzes willen einen Vertragsschluss zu unterlassen. Angesichts des gegenwärtigen Niveaus gesetzlich vorgesehener Leistungen im Fall der Berufs­un­fä­higkeit sind die meisten Berufstätigen auf eigene Vorsorge, insbesondere darauf angewiesen, für diesen Fall durch den Abschluss eines entsprechenden Versi­che­rungs­vertrags privat vorzusorgen, um ihren Lebensstandard zu sichern. Hat in einem Vertrags­ver­hältnis ein Partner ein solches Gewicht, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grund­rechts­po­si­tionen beider Vertragspartner hinzuwirken. Dazu sind die gegenläufigen Belange einander im Rahmen einer umfassenden Abwägung gegen­über­zu­stellen.

2. Die Annahme der erkennenden Gerichte, die versi­che­rungs­ver­tragliche Obliegenheit zur Schwei­ge­pflich­tent­bindung ordne in der gefundenen Auslegung die gegenläufigen Belange von Versi­che­rungs­un­ter­nehmen und Versichertem einander in angemessenem Verhältnis zu, steht mit den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben nicht in Einklang.

a) Wenn die Versicherung von der Beschwer­de­führerin die Abgabe der begehrten Schwei­ge­pflich­tent­bindung verlangen kann, wird deren Interesse an wirkungsvollem infor­ma­ti­o­nellem Selbstschutz in erheblichem Ausmaß beeinträchtigt. Die in der formularmäßigen Erklärung genannten, zum Teil sehr allgemein umschriebenen Personen und Stellen können über sensible Informationen über die Beschwer­de­führerin verfügen, die deren Persön­lich­keits­ent­faltung tief greifend berühren. Mit der Schwei­ge­pflich­tent­bindung begibt sich die Beschwer­de­führerin auch der Möglichkeit, die Wahrung ihrer Geheim­hal­tungs­in­teressen selbst zu kontrollieren, da wegen der weiten Fassung der Erklärung für sie praktisch nicht absehbar ist, welche Auskünfte über sie von wem eingeholt werden können. Das Gewicht der Inter­es­sen­be­ein­träch­tigung wird nicht dadurch gemindert, dass von der Beschwer­de­führerin lediglich verlangt wurde, ihr Einverständnis zur Erhebung sachdienlicher Informationen zu erklären. Aufgrund der Weite des Begriffs der Sachdien­lichkeit kann der Versi­che­rungs­nehmer nicht im Voraus bestimmen, welche Informationen aufgrund der Ermächtigung erhoben werden können.

b) Dem Interesse der Beschwer­de­führerin an infor­ma­ti­o­neller Selbst­be­stimmung steht ein Offen­ba­rungs­in­teresse der Versicherung von gleichfalls erheblichem Gewicht gegenüber. Es ist für das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen von hoher Bedeutung, den Eintritt des Versi­che­rungsfalls überprüfen zu können. Diesem Interesse genügt allein die Obliegenheit, bereits mit dem Leistungsantrag Angaben zum Versi­che­rungsfall zu machen und zu belegen, nicht in jedem Fall.

c) Die erkennenden Gerichte haben nicht hinreichend geprüft, ob dem Überprü­fungs­in­teresse des Versicherers auch in einer Weise genügt werden kann, die die Beschwer­de­führerin in die Lage versetzt, ihr Interesse wirksam wahrzunehmen. Es liegt nicht auf der Hand, dass es für das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen unmöglich oder unzumutbar ist, bestimmte Aufklä­rungs­maß­nahmen im Voraus zu beschreiben und dem Versi­che­rungs­nehmer vorzulegen. Wenn es aufgrund eines solchen Vorgehens zu Verzögerungen bei der Bearbeitung des Leistungs­antrags kommen sollte, schadet das in erster Linie der Beschwer­de­führerin als Versi­che­rungs­nehmerin und nicht dem Versi­che­rungs­un­ter­nehmen. Selbst wenn von der Annahme ausgegangen wird, das von der Beschwer­de­führerin vorgeschlagene Verfahren, Einze­ler­mäch­ti­gungen einzuholen, verursache einen unangemessenen Aufwand, hätten die erkennenden Gerichte in Erwägung ziehen müssen, ob andere Vorgehensweisen in Betracht kommen, die das Selbst­schut­z­in­teresse der Beschwer­de­führerin wahren. So könnte das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen im Zusammenhang mit der Mitteilung, welche Infor­ma­ti­o­ns­er­he­bungen beabsichtigt sind, dem Versicherten die Möglichkeit zur Beschaffung der Informationen oder jedenfalls eine Wider­spruchs­mög­lichkeit einräumen.

d) Im Übrigen bestehen keine verfas­sungs­recht­lichen Bedenken dagegen, eine Schwei­ge­pflich­tent­bindung wie die hier umstrittene vorzusehen und dem Versicherten die denkbaren Alternativen freizustellen. Dem Versicherten muss allerdings die Möglichkeit zu infor­ma­ti­o­nellem Selbstschutz geboten werden, die er auch ausschlagen kann. Es wäre verfas­sungs­rechtlich auch unbedenklich, den Versicherten die Kosten tragen zu lassen, die durch einen besonderen Aufwand bei der Bearbeitung seines Leistungs­antrags entstehen. Die damit verbundene Kostenlast darf allerdings nicht so hoch sein, dass sie einen infor­ma­ti­o­nellen Selbstschutz unzumutbar macht.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 110/06 des BVerfG vom 10.11.2006

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss3324

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI