21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.02.2007

Verwal­tungs­ent­schei­dungen der DDR bleiben grundsätzlich gültigNur bei Verstoß gegen fundamentale rechts­s­taatliche Grundsätze sind sie rücknehmbar

Verwal­tungs­ent­schei­dungen, die in der DDR ergangen sind, sind gem. Art. 19 des Einigungs­ver­trages auch nach dem 3. Oktober 1990 hinaus wirksam. Etwas anderes gilt nur, wenn die Verwal­tungs­ent­schei­dungen mit tragenden rechts­s­taat­lichen Grundsätzen in einer Weise unvereinbar sind, dass ihr Fortbestand in der Verfassungs- und Verwal­tungs­rechts­ordnung der Bundesrepublik nicht hingenommen werden kann. Das hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden.

Der 1926 geborene und zwischen­zeitlich verstorbene ursprüngliche Beschwer­de­führer rutschte im Februar 1984 auf dem Weg zur Arbeit bei Glatteis aus. Dabei zog er sich eine Prellung des linken Knies zu. Im September 1984 wurde sein linker Unterschenkel nach einem akuten Arteri­en­ver­schluss amputiert. Die nach dem Unfall­ver­si­che­rungsrecht der DDR zuständige Betrie­bs­ge­werk­schafts­leitung lehnte seinen Antrag auf Anerkennung der Unter­schen­ke­l­am­pu­tation als Folge des Wegeunfalls im Dezember 1985 ab. Die aufgetretenen Durch­blu­tungs­stö­rungen und die nachfolgende Amputation seien keine Unfallfolge, sondern Folge einer anlagebedingten Erkrankung. Nach Herstellung der Deutschen Einheit beantragte der Versicherte bei der nun für ihn zuständigen Berufs­ge­nos­sen­schaft die Anerkennung seiner Unter­bein­am­pu­tation als Folge eines Arbeitsunfalls. Die Berufs­ge­nos­sen­schaft lehnte den Antrag ab. Die hiergegen gerichtete Klage blieb in letzter Instanz ohne Erfolg. Das Bundes­so­zi­al­gericht führte aus, dass die Berufs­ge­nos­sen­schaft an den Bescheid der DDR-Behörde vom Dezember 1985 gebunden sei. Dies folge aus Art. 19 des Einigungs­vertrags, wonach vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der DDR grundsätzlich wirksam blieben und nur bei Unvereinbarkeit mit rechts­s­taat­lichen Grundsätzen aufgehoben werden könnten. Verwaltungsakte der DDR, die nicht gegen fundamentale rechts­s­taatliche Grundsätze verstoßen, seien daher von einer Rücknahme nach § 44 des Zehnten Buches Sozial­ge­setzbuch (SGB X) ausgeschlossen.

Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat die hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde zurückgewiesen, da die Entscheidung des Bundes­so­zi­al­ge­richts verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden sei.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde: In Art. 19 des Einigungs­vertrags wurde im Interesse der Rechts­si­cherheit eine Entscheidung zugunsten der Rechts­be­stän­digkeit der Verwal­tungs­ent­schei­dungen der DDR getroffen. Danach sind diese über den 3. Oktober 1990 hinaus wirksam, wenn und soweit sie nach der seinerzeitigen Staats- und Verwal­tung­s­praxis der DDR ungeachtet etwaiger Rechtsmängel als wirksam angesehen und behandelt wurden. Art. 19 Einigungs­vertrag ermöglicht nach allgemeiner Auffassung die Aufhebung nur solcher Verwal­tungs­ent­schei­dungen, die mit tragenden rechts­s­taat­lichen Grundsätzen in einer Weise unvereinbar sind, dass ihr Fortbestand in der Verfassungs- und Verwal­tungs­rechts­ordnung der Bundesrepublik nicht hingenommen werden kann.

Es durfte ohne Verstoß gegen das Grundgesetz im Einigungs­vertrag davon abgesehen werden, die 40-jährige Verwal­tung­s­praxis der DDR am Maßstab der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland aufzuarbeiten. Wäre Art. 19 Einigungs­vertrag dahingehend auszulegen, dass alle von den zuständigen Stellen der DDR im Rahmen der Unfall­ver­si­cherung getroffenen Entscheidungen über die Anerkennung und Entschädigung als Arbeitsunfall einer Überprüfung auf der Grundlage des Rechts der DDR oder auf der Grundlage des gesamtdeutschen Rechts unterliegen, wäre diese Aufgabe in einem unter dem Gesichtspunkt der Rechts­si­cherheit vertretbaren Zeitrahmen nicht zu leisten gewesen. Die Geset­zes­be­gründung zum Renten- Überlei­tungs­gesetz spricht von etwa 300.000 übernommenen, von den zuständigen Stellen der DDR verbeschiedenen Entschä­di­gungs­fällen und einer nicht unerheblichen Zahl von Arbeitsunfällen und Berufs­krank­heiten, die weit zurücklägen und zur Prüfung und gegebenenfalls Anerkennung noch anstünden. Auch fehlt nach den Feststellungen des Hauptverbandes der gewerblichen Berufs­ge­nos­sen­schaften die erforderliche Gutach­ter­ka­pazität, um eine größere Zahl der übergeleiteten etwa 300.000 Fälle auf die Richtigkeit der seinerzeit vorgenommenen Bewertungen zu beurteilen.

Aus dem Sozial­staats­prinzip des Grundgesetzes kann zwar unter bestimmten Voraussetzungen eine verfas­sungs­rechtliche Pflicht zum Ausgleich von Schäden folgen, die durch rechtswidriges Verhalten einer nicht an das Grundgesetz gebundenen Staatsgewalt entstanden sind. Für die Annahme einer solchen Ausgleichs­pflicht ist im vorliegenden Fall jedoch nichts ersichtlich. Zutreffend hat das Bundes­so­zi­al­gericht darauf hingewiesen, dass die gesundheitliche Beein­träch­tigung des Versicherten von seiner Kranken­ver­si­cherung und der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung aufgefangen wurde.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 40/2007 des Bundesverfassungsgerichts vom 04.04.2007

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