18.10.2024
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Dokument-Nr. 3400

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Urteil15.01.2002Bundesverfassungsgericht1 BvR 1783/99
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • BVerfGE 104, 337Sammlung: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band: 104, Seite: 337
  • DÖV 2002, 383Zeitschrift: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV), Jahrgang: 2002, Seite: 383
  • NJW 2002, 663Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2002, Seite: 663
  • NVwZ 2002, 335Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), Jahrgang: 2002, Seite: 335
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Urteil15.01.2002

Schäch­ter­laubnis für muslimischen Metzger

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat der Verfas­sungs­be­schwerde eines türkischen muslimischen Metzgers stattgegeben, der eine Ausnah­me­ge­neh­migung von dem allgemeinen gesetzlichen Verbot erstrebte, Tiere ohne Betäubung zu schlachten (zu schächten).

§ 4 a Tierschutz­gesetz verbietet das Schlachten warmblütiger Tiere ohne vorherige Betäubung (Schächten). Eine Ausnah­me­ge­neh­migung darf erteilt werden, wenn es "erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religi­o­ns­ge­mein­schaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religi­o­ns­ge­mein­schaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen."

Der Beschwer­de­führer (Bf), ein muslimischer Metzger, möchte eine derartige Ausnah­me­ge­neh­migung erteilt bekommen. Von 1988 bis 1994 hatte er eine solche erhalten, anschließend jedoch nicht mehr. Nach Meinung der Verwal­tungs­ge­richte schreibt der Islam - auch dessen sunnitischer Zweig - den Gläubigen nicht zwingend vor, nur geschächtetes Fleisch zu essen. Es komme auf die Religi­o­ns­ge­mein­schaft insgesamt an, nicht auf einzelne, womöglich strengere Glaubens­rich­tungen, denen der Bf und seine Kunden angehören. Das Schächten sei hier auch nicht Religi­o­ns­ausübung, sondern Berufsausübung.

Der Bf sieht sich in seiner Religi­o­ns­freiheit und in einer Reihe anderer Grundrechte durch diese Entscheidungen verletzt. Gründe des Tierschutzes verlangten das Schächtverbot nicht; denn sachgerecht durchgeführtes Schächten sei für das Tier nicht quälender als die erlaubten Schlacht­me­thoden.

Der Erste Senat stellt fest, dass § 4 a des Tierschutz­ge­setzes (TierSchG) verfas­sungsgemäß ist, seine Auslegung und Anwendung durch die Verwal­tungs­be­hörden und Verwal­tungs­ge­richte in den angegriffenen Entscheidungen den Anforderungen des Grundgesetzes (GG) jedoch nicht gerecht werden. Nach Absatz 1 dieser Norm ist das Schächten grundsätzlich verboten. Absatz 2 eröffnet jedoch die Möglichkeit, aus bestimmten - auch religiös motivierten - Gründen eine Aus nahme­ge­neh­migung zu erteilen. Im Ausgangs­ver­fahren ging es um die zweite Alternative der Nr. 2 dieses Absatzes; danach darf eine Ausnah­me­ge­neh­migung nur erteilt werden, soweit es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religi­o­ns­ge­mein­schaften im Geltungsbereich des Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religi­o­ns­ge­mein­schaft den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen.

Der Senat stellt klar, dass das Schächten für einen muslimischen Metzger in erster Linie eine Frage der Berufsausübung und nicht der Religi­o­ns­ausübung ist. Ein gläubiger Moslem hat diese Tätigkeit allerdings unter Beachtung religiöser Vorschriften auszuüben. Deshalb ist das Grundrecht der Religi­o­ns­freiheit als Maßstab für die Auslegung von Vorschriften, die die Berufsausübung einschränken, ergänzend und deren Schutz verstärkend heranzuziehen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Berufs­aus­übungs­freiheit eingeschränkt werden kann. Hierbei ist insbesondere der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit zu beachten.

Danach ist § 4 a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Gesetzgeber hat durch das allgemeine Schächtverbot wie durch die Ausnah­me­re­gelung des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG in zulässiger Weise den Belangen des Tierschutzes Rechnung getragen. Seine Grundannahme, dass es Tieren weniger Schmerzen und Leiden bereitet, wenn sie vor dem Schlachten betäubt werden, ist zumindest vertretbar. Durch die Möglichkeit, Ausnah­me­ge­neh­mi­gungen zu erteilen, wird aber auch den Grundrechten muslimischer Metzger hinreichend Rechnung getragen, deren Berufsausübung unter Beachtung ihrer religiösen Überzeugung so ermöglicht wird. Sie können damit ihre muslimischen Kunden mit dem Fleisch geschächteter Tiere beliefern und auf diese Weise in den Stand setzen, Fleisch in Übereinstimmung mit ihrer Glaubens­über­zeugung zu verzehren.

Dies gilt allerdings nur, wenn § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG nicht wie seit einem Ur teil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts vom 15. Juni 1995 (BVerwGE 99, 1) so ausgelegt und angewandt wird, dass die Vorschrift für muslimische Metzger praktisch leer läuft. Ein solches Ergebnis lässt sich durch eine verfas­sungs­gemäße Auslegung der Tatbe­stands­merkmale "Religi­o­ns­ge­mein­schaft" und "zwingende Vorschriften" vermeiden. Der Begriff der Religi­o­ns­ge­mein­schaft ist, wie inzwischen in einer neueren Entscheidung (BVerwGE 112, 227) auch das Bundes­ver­wal­tungs­gericht angenommen hat, nicht in dem Sinne zu verstehen, dass es sich um eine Religi­o­ns­ge­sell­schaft oder -gemeinschaft im Verständnis des Art. 137 Abs. 5 der Weimarer Reichs­ver­fassung oder des Art. 7 Abs. 3 GG handeln müsste. Für die Bewilligung einer Ausnah­me­ge­neh­migung vom Schächtverbot ist vielmehr ausreichend, dass der Antragsteller einer Gruppe von Menschen angehört, die eine gemeinsame Glaubens­über­zeugung verbindet. Als Religi­o­ns­ge­mein­schaften kommen im vorliegenden Zusammenhang deshalb auch Gruppierungen innerhalb des Islam in Betracht, deren Glaubens­richtung sich von derjenigen anderer islamischer Gemeinschaften unterscheidet. Diese Auslegung des Begriffs der Religi­o­ns­ge­mein­schaft steht mit der Verfassung im Einklang und trägt insbesondere Art. 4 GG Rechnung. Sie ist auch mit dem Wortlaut der genannten tierschutz­recht­lichen Vorschrift vereinbar und entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Dieser wollte die Ausnah­memög­lichkeit nicht nur für Angehörige der jüdischen Glaubenswelt, sondern auch für Mitglieder des Islam und seiner unter­schied­lichen Glaubens­rich­tungen eröffnen.

Mittelbar hat das Konsequenzen auch für die Handhabung des weiteren Merkmals "zwingende Vorschriften", die den Angehörigen der Gemeinschaft den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Ob dieses Merkmal erfüllt ist, haben die Behörden und im Streitfall die Gerichte zu entscheiden. Allerdings kann diese Frage bei einer Religion, die - wie der Islam - unter­schiedliche Auffassungen zum Schächtgebot vertritt, nicht mit Blick auf den Islam insgesamt oder die sunnitischen oder schiitischen Glaubens­rich­tungen dieser Religion beantwortet werden.

Die Frage nach der Existenz zwingender Vorschriften ist vielmehr für die konkrete, gegebenen falls innerhalb einer solchen Glaubens­richtung bestehende Religi­o­ns­ge­mein­schaft zu beurteilen.

Dabei reicht es aus, dass derjenige, der die erstrebte Ausnah­me­ge­neh­migung zur Versorgung der Mitglieder einer Gemeinschaft benötigt, substantiiert und nachvollziehbar darlegt, dass nach deren gemeinsamer Glaubens­über­zeugung der Verzehr des Fleischs von Tieren zwingend eine betäubungslose Schlachtung voraussetzt. Ist eine solche Darlegung erfolgt, hat sich der Staat, der ein derartiges Selbst­ver­ständnis der Religi­o­ns­ge­mein­schaft nicht unberück­sichtigt lassen darf, einer Bewertung dieser Glaubens­er­kenntnis zu enthalten.

Die Behörden und die Verwal­tungs­ge­richte haben im Ausgangs­ver­fahren die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer solchen Auslegung verkannt und sind daher bei der Anwendung der Ausnah­me­re­gelung vom Schächtverbot zu Lasten des Beschwer­de­führers zu einer unver­hält­nis­mäßigen Grund­rechts­be­schränkung gelangt. Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat deshalb die angegriffenen Gericht­s­ent­schei­dungen aufgehoben und die Sache an das Verwal­tungs­gericht zurückverwiesen.

Quelle: ra-online, BVerfG

der Leitsatz

1. Die Tätigkeit eines nichtdeutschen gläubigen muslimischen Metzgers, der Tiere ohne Betäubung schlachten (schächten) will, um seinen Kunden in Übereinstimmung mit ihrer Glaubens­über­zeugung den Genuss von Fleisch geschächteter Tiere zu ermöglichen, ist verfas­sungs­rechtlich anhand von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu beurteilen.

2. Im Lichte dieser Verfas­sungs­normen ist § 4 a Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 des Tierschutz­ge­setzes so auszulegen, dass muslimische Metzger eine Ausnah­me­ge­neh­migung für das Schächten erhalten können.

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