18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss25.01.2011

BVerfG zur Wahrung von Arbeit­neh­mer­rechten beim gesetzlich vollzogenen Arbeit­ge­ber­wechsel im Rahmen einer PrivatisierungUngerecht­fer­tigter Eingriff in grundrechtlich garantierte freie Wahl des Arbeitsplatzes

Bei der Privatisierung eines öffentlichen Unternehmens müssen Arbeitnehmern beim Übergang ihres Arbeits­ver­hält­nisses Wider­spruchs­rechte eingeräumt werden. Werden ihnen diese Rechte nicht eingeräumt, stellt dies eine Verletzung des grundrechtlich garantierten Rechts auf freie Wahl des Arbeitsplatzes dar. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Im Jahr 2005 kam das Land Hessen vor dem Hintergrund wirtschaft­licher Probleme der Univer­si­täts­kliniken zu dem Entschluss, die Univer­si­täts­kliniken Gießen und Marburg zusam­men­zu­fassen und sodann zu privatisieren. Das hierzu erlassene und am 1. Juli 2005 in Kraft getretene Gesetz über die Errichtung des Univer­si­täts­kli­nikums Gießen und Marburg (UKG) regelt, dass alle Rechte, Pflichten und Zuständigkeiten der bislang selbständigen Univer­si­täts­kliniken im Wege der Gesamt­rechts­nachfolge auf das „Univer­si­täts­klinikum Gießen und Marburg“ als neu errichtete Anstalt des öffentlichen Rechts übergehen. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG wurden die Arbeits­ver­hältnisse der in der Kranken­ver­sorgung und Verwaltung der beiden Kliniken tätigen nicht­wis­sen­schaft­lichen Beschäftigten, die bis dahin im Dienst des Landes Hessen standen, auf das Univer­si­täts­klinikum Gießen und Marburg übergeleitet. Eine der Vorschrift des § 613 a Abs. 6 BGB entsprechende Regelung, die bei einem rechts­ge­schäft­lichen Betrie­bs­übergang den betroffenen Arbeitnehmern ein Wider­spruchsrecht gegen den Übergang ihrer Arbeits­ver­hältnisse auf den neuen Betriebsinhaber einräumt, wurde nicht aufgenommen.

2006 erfolgt Privatisierung des Univer­si­täts­kli­nikums

Das Gesetz enthält ferner die Ermächtigung, die neue Anstalt im Wege der Rechts­ver­ordnung zu privatisieren. Die Privatisierung erfolgte 2006. Das Univer­si­täts­klinikum Gießen und Marburg wurde in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt. Das Land verkaufte 95 % der Geschäfts­anteile der neu geschaffenen Univer­si­täts­klinikum Gießen und Marburg GmbH an einen privaten Kranken­h­aus­be­treiber, der sich verpflichtete, bis Ende 2010 keine betrie­bs­be­dingten Kündigungen auszusprechen.

Klage auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeits­ver­hält­nisses mit dem Land erfolglos

Die Beschwer­de­führerin war als Kranken­schwester und damit als nicht wissen­schaftlich tätige Arbeitnehmerin des Klinikums Marburg beim Land beschäftigt. Sie widersprach dem Übergang des Arbeits­ver­hält­nisses auf das Univer­si­täts­klinikum Gießen und Marburg und später auf die GmbH. Ihre Klage gegen das Land Hessen auf Feststellung, dass ihr Arbeits­ver­hältnis mit dem Land fortbesteht, hatte zwar vor dem Arbeitsgericht, nicht aber vor dem Landes­a­r­beits­gericht und dem Bundes­a­r­beits­gericht Erfolg. Der Beschwer­de­führerin stehe unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Wider­spruchsrecht zu. Sowohl die Überleitung der Arbeits­ver­hältnisse als auch die Nichteinräumung eines Wider­spruchs­rechts sei durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt.

Beschwer­de­führerin rügt Verletzung des Grundrechts auf freie Wahl bzw. Beibehaltung des Arbeitsplatzes

Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde rügt die Beschwer­de­führerin im Wesentlichen eine Verletzung ihres Grundrechts auf freie Wahl bzw. Beibehaltung des Arbeitsplatzes. Zudem sei sie in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt, weil das Bundes­a­r­beits­gericht vorab dem Gerichtshof der Europäischen Union die Frage hätte vorlegen müssen, ob sich aus dem Gemein­schaftsrecht (Richtlinie 2001/23/EG) ein Wider­spruchsrecht der Arbeitnehmer ergebe.

Überleitung des Arbeits­ver­hält­nisses mit geschütztem Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes unvereinbar

Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat entschieden, dass die durch § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG angeordnete und von den Fachgerichten bestätigte Überleitung des Arbeits­ver­hält­nisses vom Land auf das Univer­si­täts­klinikum Gießen und Marburg mit dem durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes unvereinbar ist. Der Landes­ge­setzgeber ist verpflichtet, bis spätestens zum 31. Dezember 2011 eine Neuregelung zu treffen. Die angegriffenen Urteile sind aufgehoben und die Sache an das Landes­a­r­beits­gericht mit der Maßgabe zurückverwiesen worden, das Verfahren bis zu einer Neuregelung auszusetzen.

Beschwer­de­führerin wurde neuer, nicht frei gewählter Arbeitgeber aufgedrängt

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen zugrunde: Der Landes­ge­setzgeber greift in die durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierte freie Wahl des Arbeitsplatzes ein, indem aufgrund der Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG das Univer­si­täts­klinikum als rechtsfähige Anstalt zum Arbeitgeber der Beschwer­de­führerin wird. Dadurch wird ihr ein neuer, von ihr nicht frei gewählter Arbeitgeber aufgedrängt. Zugleich wird den betroffenen Arbeitnehmern unmittelbar der von ihnen gewählte Arbeitgeber entzogen. Besonderes Gewicht erhält der Eingriff zudem dadurch, dass aufgrund der geplanten Privatisierung mit der Versetzung der Arbeitnehmer an das Klinikum ein Prozess in Gang gesetzt wird, der sie nicht nur aus dem Landesdienst, sondern letztlich auch aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Eine verfas­sungs­konforme Auslegung des § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG durch Einräumung eines Wider­spruchs­rechts entsprechend § 613 a BGB scheidet angesichts der bewussten Entscheidung des Landes­ge­setz­gebers gegen ein Wider­spruchsrecht der Arbeitnehmer aus.

Einschränkungen der Privatautonomie der Arbeitgeber macht Regelungen zur Erleichterung der Priva­ti­sie­rungs­ent­schei­dungen unver­hält­nismäßig

Dieser durch § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG bewirkte Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit ist verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt. Das angegriffene Gesetz dient der Durchführung der Privatisierung der Univer­si­täts­kliniken, die als solche eine legitime Wahrnehmung der Organi­sa­ti­o­ns­gewalt des Landes ist. Die Nichteinräumung eines Wider­spruchs­rechts hatte aus der Sicht des Landes­ge­setz­gebers das Ziel, die Privatisierung zu erleichtern, und kann insofern noch als geeignet und erforderlich angesehen werden. Der Umstand, dass der Landes­ge­setzgeber zur Erleichterung seiner Priva­ti­sie­rungs­ent­scheidung als Arbeitgeber die Privatautonomie seiner Arbeitnehmer beschneidet, macht die Regelung jedoch unver­hält­nismäßig.

Arbeitnehmern wird erhebliches Maß an Bestandsschutz entzogen

Denn die in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG ausgestaltete Überleitung der Arbeits­ver­hältnisse bewirkt eine Loslösung des Landes von eingegangenen arbeits­ver­trag­lichen Bindungen, ohne dass bei einem entge­gen­ste­henden Willen des Arbeitnehmers die Einhaltung kündi­gungs­recht­licher Vorschriften sichergestellt werden muss. Dadurch wird dem Arbeitnehmer ein erhebliches Maß an Bestandsschutz entzogen. Die Ausübung eines Wider­spruchs­rechts ließe das Arbeits­ver­hältnis mit dem bisherigen Arbeitgeber fortbestehen. Wenn in dessen Betrieb der Beschäf­ti­gungs­bedarf wegfiele, käme zwar eine betrie­bs­be­dingte Kündigung in Betracht, die aber den Anforderungen des Kündi­gungs­schutz­ge­setzes standhalten muss. Ob es dem Arbeitnehmer gelingt, seine Beschäftigung beim bisherigen Arbeitgeber auf Dauer beizubehalten, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Die Abwägung der damit verbundenen Risiken muss aber der privatautonomen Entscheidung des Arbeitnehmers vorbehalten bleiben. Die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Privatautonomie des Arbeitnehmers erlaubt Gesetzgeber und Gerichten nicht, kraft vermeintlich besserer Einsicht die Entscheidung, welcher von mehreren zur Auswahl stehenden Arbeitgebern mehr Vorteile bietet, an Stelle des Arbeitnehmers zu treffen.

Gesetzgeber muss Grundrecht des Arbeitnehmers auf freie Wahl des Arbeitsplatzes schützen

Jedenfalls dann, wenn der Wechsel des Arbeitgebers unmittelbar kraft Gesetzes aus der Beschäftigung bei einem öffentlichen Arbeitgeber zu einem privaten Arbeitgeber führt oder wenn es sich - wie hier - um einen Zwischenschritt zu einer beabsichtigten Privatisierung handelt, muss der Gesetzgeber das Grundrecht des Arbeitnehmers auf freie Wahl des Arbeitsplatzes schützen. Denn das Land tritt in einem Priva­ti­sie­rungs­prozess in einer Doppelrolle auf, nämlich sowohl als (bisheriger) Arbeitgeber wie als Gesetzgeber, der sich selbst unmittelbar durch Gesetz aus der Arbeit­ge­ber­stellung löst und sich damit seinen arbeits­ver­trag­lichen Pflichten entzieht. Damit ist zwar nicht gerade die Vorschrift des § 613 a Abs. 6 BGB verfas­sungs­rechtlich geboten. Soweit die in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG geregelte Überleitung des Arbeits­ver­hält­nisses aber überhaupt keine Möglichkeit bietet, den Fortbestand des Arbeits­ver­hält­nisses zum Land geltend machen zu können, stellt dies eine unver­hält­nis­mäßige Beschränkung des durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Interesses der betroffenen Arbeitnehmer an der Beibehaltung des gewählten Vertrags­partners dar, die durch die mit der Privatisierung verfolgten Ziele nicht gerechtfertigt ist.

Recht der Beschwer­de­führerin auf gesetzlichen Richter nicht verletzt

Dagegen ist die Beschwer­de­führerin nicht in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Aus verfas­sungs­recht­licher Sicht bestehen keine Bedenken dagegen, dass das Bundes­a­r­beits­gericht von einem Vorab­ent­schei­dungs­er­suchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV abgesehen hat. Insbesondere konnte es vertretbar davon ausgehen, dass es für ein Wider­spruchsrecht der Arbeitnehmer bei einem Betrie­bs­übergang an einer europa­recht­lichen Grundlage fehlt. Weder die Betrie­bs­über­g­angs­richtlinie 2001/23/EG selbst enthält eine Vorschrift zum Wider­spruchsrecht noch hat der Gerichtshof aus der Richtlinie ein Wider­spruchsrecht der Arbeitnehmer abgeleitet. Vielmehr hat er in den Urteilen, in denen er sich mit Fragen zum Wider­spruchsrecht ausein­an­der­gesetzt hat, betont, dass die in der Richtlinie 2001/23/EG angeordnete Rechtsfolge des Betrie­bs­übergangs, das heißt der Über- gang des Arbeits­ver­hält­nisses auf den Betrie­bs­er­werber, zwingend ist. Den Grundrechten der Arbeitnehmer ist aus Sicht des Gerichtshofs nur geschuldet, dass sie sich gegen die durch den Betrie­bs­übergang bewirkte Begründung einer arbeits­ver­trag­lichen Beziehung mit dem Betrie­bs­er­werber entscheiden können. Er hat es aber ausdrücklich abgelehnt, den Zweck der Richtlinie auch darin zu sehen, dass die Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeit nicht für den Betrie­bs­er­werber ausüben wollen, das Arbeits­ver­hältnis mit dem Veräußerer fortsetzen können.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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