18.10.2024
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Beschluss05.04.2005Bundesverfassungsgericht1 BvR 1664/04
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Bundesverfassungsgericht Beschluss05.04.2005

Erfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde gegen Sorge­recht­s­ent­scheidung des OLG Naumburg in Sachen Görgülü

Erneut hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht eine Entscheidung des 14. Senats des Oberlan­des­ge­richts (OLG) Naumburg beanstandet. Dieses hatte den Sorge­rechts­antrag des Beschwer­de­führers (Bf) für sein nichteheliches Kind abgewiesen. Die 1. Kammer des Ersten Senats stellte fest, dass die Entscheidung des OLG Naumburg den Bf in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (Elternrecht) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (Bindung an Gesetz und Recht) verletzt und wies die Sache an einen anderen Familiensenat des OLG Naumburg zurück.

Der Beschwer­de­führer (Bf) ist der Vater eines 1999 nichtehelich geborenen Kindes. Die Mutter willigte sogleich nach der Geburt in die Adoption des Kindes ein, das seither bei Pflegeeltern lebt. Nachdem auf Betreiben des Bf seine Vaterschaft gerichtlich festgestellt worden war, bemühte er sich in verschiedenen gerichtlichen Verfahren erfolglos um die Übertragung des Sorgerechts und um die Einräumung eines Umgangsrechts. Auf seine Indivi­du­al­be­schwerde stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 26. Februar 2004 fest, dass die Sorge­recht­s­ent­scheidung und der Ausschluss des Umgangsrechts eine Verletzung von Art. 8 Europäische Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) darstellten. Dennoch wies der 14. Senat des OLG Naumburg den Sorge­rechts­antrag des Bf zurück, da dem Urteil des EGMR keine Bindungswirkung zukomme. Die gegen den Beschluss des OLG gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde (Vb) des Bf war erfolgreich.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das OLG Naumburg hat das Urteil des EGMR nicht hinreichend beachtet.

1. Ein nationales Gericht hat die Rechtsprechung des EGMR grundsätzlich zu berücksichtigen (vgl. Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04 –; Presse­mit­teilung Nr. 92/2004 vom 19. Oktober 2004). Die Anwendung von Art. 8 EMRK in der Auslegung des EGMR führt auch nicht zu Ergebnissen, die mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Der EGMR hat ausgeführt, das OLG hätte prüfen müssen, ob es Möglichkeiten der Zusammenführung gibt, die das Kindeswohl weniger belasten. Außerdem hätten auch die langfristigen Auswirkungen einer Trennung des Kindes von seinem leiblichen Vater berücksichtigt werden müssen. Dies steht im Einklang mit dem Grundgesetz. Bei der Entscheidung, unter welchen Voraussetzungen ein Kind zum Zwecke des Umzugs zu seinen leiblichen Eltern aus einer Pflegefamilie herausgenommen werden kann, ist – auch nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts – dem Elternrecht, der Grund­rechts­po­sition des Kindes und dem Grundrecht der Pflegefamilie Rechnung zu tragen. Bei der Abwägung muss das Wohl des Kindes letztlich bestimmend sein. Zur Gewährung dieses Grund­rechts­schutzes muss das gerichtliche Verfahren geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen.

2. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des OLG nicht gerecht. Das OLG vertritt zu Unrecht die Auffassung, dass das Urteil des EGMR für die nationalen Gerichte unverbindlich sei. Zudem hat es verkannt, dass es nicht darauf ankommt, ob die Entscheidung des EGMR die Rechtskraft der beanstandeten Entscheidung des OLG beseitigt. Denn in Sorge­rechts­ver­fahren ist für den Einwand der rechtkräftig entschiedenen Sache kein Raum. Die Fürsorge gegenüber dem Minderjährigen hat stets Vorrang vor der Endgültigkeit einer einmal getroffenen Entscheidung. Eine abändernde Entscheidung setzt triftige, das Kindeswohl nachhaltig berührende Gründe voraus. Es ist jedoch anerkannt, dass auch eine Änderung der Rechtsprechung einen Abände­rungsgrund bedeuten kann. Das OLG hat verkannt, dass in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung des EGMR zu berücksichtigen ist.

Schließlich hat sich das OLG auch nicht damit ausein­an­der­gesetzt, wie Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (Elternrecht) in einer den völker­recht­lichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Weise hätte ausgelegt werden können. So hat es sich nicht hinreichend mit der vom EGMR aufgeworfenen Frage befasst, welche langfristigen Auswirkungen eine dauerhafte Trennung des Kindes von seinem Vater hat und ob es das Kindeswohl weniger belastende Möglichkeiten der Zusammenführung gibt. Um einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls durch eine sofortige Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie entge­gen­zu­wirken, wäre beispielsweise denkbar gewesen, dem Bf zwar das Sorgerecht zu übertragen, dies aber mit einer Verblei­bens­a­n­ordnung zugunsten der Pflegefamilie zu verbinden. Schließlich hat das OLG auch nicht die erforderlichen Ermittlungen durchgeführt, um die vom EGMR aufgeworfenen Fragen beantworten zu können. Die Pädagogin K., auf deren Stellungnahme das OLG seine Entscheidung stützt, hat den Bf selbst nicht in ihre Untersuchungen einbezogen. Da es sich außerdem um eine vom Landesjugendamt in Auftrag gegebene Stellungnahme handelt, die als Parteigutachten zu qualifizieren ist, wäre die Einholung eines Gutachtens eines unabhängigen Sachver­ständigen geboten gewesen. Zudem hat sich das OLG - soweit ersichtlich - zu keiner Zeit einen persönlichen Eindruck von den Beteiligten verschafft.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 34/2005 des BVerfG vom 20.04.2005

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