18.10.2024
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Dokument-Nr. 464

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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.04.2005

Grundgesetz gewährleistet Mindest­be­tei­ligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass

Die grundsätzlich unentziehbare und bedarf­s­u­n­ab­hängige wirtschaftliche Mindest­be­tei­ligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass wird durch die Erbrechts­ga­rantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet. Die Normen über das Pflicht­teilsrecht der Kinder des Erblassers (§ 2303 Abs. 1 BGB) und über die Pflicht­teils­ent­zie­hungs­gründe des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies entschied der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts.

Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:

Nach § 2303 Abs. 1 BGB kann das Kind eines Erblassers, das durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossen ist, von dem Erben den Pflichtteil verlangen. Der Erblasser kann dem Kind den Pflichtteil nur entziehen, wenn ein Pflicht­teils­ent­zie­hungsgrund vorliegt. Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn das Kind dem Erblasser nach dem Leben trachtet oder es sich einer vorsätzlichen körperlichen Misshandlung des Erblassers schuldig macht (§ 2333 Nr. 1 und 2 BGB).

Verfahren 1 BvR 1644/00: Der Beschwer­de­führer (Bf) ist einer von zwei Söhnen der Erblasserin. Sie hatte ihn zu ihrem Alleinerben eingesetzt und lebte mit ihrem an einer schizophrenen Psychose leidenden anderen Sohn (im Folgenden: Kläger) in einem Haus. In den letzten Jahren vor ihrem Tod kam es wiederholt zu schweren tätlichen Angriffen des Klägers gegen die Erblasserin. Einen Monat vor ihrem Tod entzog die Erblasserin dem Kläger wegen der von ihm begangenen Misshandlungen den Pflichtteil. Im Februar 1994 erschlug der Kläger die Erblasserin aus Angst vor und aus Wut wegen seiner bevorstehenden Einweisung in das Landes­kran­kenhaus. Wegen dieser Tat ordnete das Landgericht (LG) in einem Siche­rungs­ver­fahren die Unterbringung des bei der Tötung schuldunfähigen Klägers in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Der Kläger, vertreten durch seinen Betreuer, machte gegen den Bf seinen Pflicht­teils­an­spruch geltend. LG und Oberlan­des­gericht (OLG) gaben der Klage statt, da wegen der Schul­d­un­fä­higkeit des Klägers eine wirksame Pflicht­teils­ent­ziehung nicht vorliege. Die hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde (Vb) des Bf hatte im Wesentlichen Erfolg. Der Erste Senat hob das Urteil des OLG auf, weil es den Bf in seinem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt, und wies die Sache an das OLG zurück.

Verfahren 1 BvR 188/03: Zwischen dem Erblasser, der vor seinem Tod an verschiedenen Erkrankungen litt, und seinem Sohn (im Folgenden: Kläger) kam es in den letzten Jahren vor dem Erbfall zu Ausein­an­der­set­zungen über den Kontakt des Erblassers mit seinem Enkelkind. Der Erblasser entzog dem Bf den Pflichtteil mit der Begründung, trotz Kenntnis von der Erkrankung habe der Kläger die Kontaktaufnahme zu dem Enkelkind verweigert. Nach dem Tod des Erblassers machte der Kläger gegenüber der Erbin (Bf) mittels einer Auskunftsklage sein Pflicht­teilsrecht gerichtlich geltend. Die Gerichte hielten die Pflicht­teils­ent­ziehung für unwirksam. Die gegen die gerichtlichen Entscheidungen erhobene Vb der Erbin hatte keinen Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Zu den von der Erbrechts­ga­rantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten traditionellen Kernelementen des deutschen Erbrechts gehört auch das Recht der Kinder des Erblassers auf eine grundsätzlich unentziehbare und bedarf­s­u­n­ab­hängige Teilhabe am Nachlass. An diese grundsätzliche Anerkennung eines Pflicht­teils­rechts der Kinder hat der Grund­ge­setzgeber durch die Erbrechts­ga­rantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG angeknüpft. Das Pflicht­teilsrecht der Erblasserkinder ist neben der Testierfreiheit und dem Erwerbsrecht des Erben Bestandteil des institutionell verbürgten Gehalts der Erbrechts­ga­rantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG.

Darüber hinaus ist das Pflicht­teilsrecht Ausdruck einer Famili­en­so­li­darität, die in grundsätzlich unauflösbarer Weise zwischen dem Erblasser und seinen Kindern besteht. Art. 6 Abs. 1 GG schützt das Verhältnis zwischen dem Erblasser und seinen Kindern als lebenslange Gemeinschaft, innerhalb derer Eltern wie Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, füreinander Verantwortung zu übernehmen. Die Verpflichtung zur gegenseitigen umfassenden Sorge rechtfertigt es, dem Kind mit dem Pflicht­teilsrecht auch über den Tod des Erblassers hinaus eine ökonomische Basis aus dem Vermögen des verstorbenen Elternteils zu sichern. Gerade in Fällen einer Entfremdung zwischen dem Erblasser und seinen Kindern setzt das Pflicht­teilsrecht der Testierfreiheit des Erblassers Grenzen und der damit für ihn eröffneten Möglichkeit, ein Kind durch Enterbung zu „bestrafen“.

2. Die Norm über das Pflicht­teilsrecht der Kinder des Erblassers genügt auch in der konkreten Ausprägung (§ 2303 Abs. 1 BGB) den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen. Die Regelung sichert einerseits den Kindern des Erblassers eine angemessene Nachlass­teilhabe in Form eines Geldanspruchs. Der den Kindern gewährte Anteil am Nachlass lässt andererseits dem Erblasser einen hinreichend großen vermö­gens­mäßigen Freiraum, um seine Vorstellungen über die Verteilung seines Vermögens nach dem Tode umzusetzen.

Auch die Regelungen über die Pflicht­teils­ent­zie­hungs­gründe des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Sie knüpfen die Versagung des Pflicht­teils­an­spruchs des Kindes an ein außergewöhnlich schwerwiegendes Fehlverhalten gegenüber dem Erblasser. Nur dann ist es für den Erblasser unzumutbar, eine seinem Willen widersprechende Nachlass­teilhabe des Kindes hinzunehmen. Die gesetzlichen Regelungen umschreiben auch im Interesse der Normenklarheit und der Justiziabilität das Fehlverhalten des Kindes gegenüber dem Erblasser in hinreichend klarer Weise. Sie sehen zudem – jedenfalls in der Auslegung, wie sie durch Rechtsprechung und Lehre gefunden haben – mit der Voraussetzung eines schuldhaften Verhaltens des Kindes ein Tatbe­stands­merkmal vor, das für den Regelfall in geeignete Weise sicher stellt, dass Fehlver­hal­tens­weisen eines Kindes den Erblasser nur in extremen Ausnahmefällen zur Pflicht­teils­ent­ziehung berechtigen.

3. Die mit der Vb 1 BvR 1644/00 angegriffenen Entscheidungen tragen allerdings bei der Anwendung des § 2333 Nr. 1 BGB der Ausstrah­lungs­wirkung des Grundrechts der Testierfreiheit nicht hinreichend Rechnung. Nach dem im straf­ge­richt­lichen Verfahren eingeholten Sachver­stän­di­gen­gut­achten war der Kläger bei der Tötung der Erblasserin zwar schuldunfähig im straf­recht­lichen Sinne, aber immerhin in der Lage, das Unrecht seiner Tat einzusehen. Dies hätte die Zivilgerichte im Ausgangs­ver­fahren zur Prüfung veranlassen müssen, ob der Kläger bei den vorangegangenen Misshandlungen jedenfalls in einem natürlichen Sinne vorsätzlich gehandelt und den Tatbestand des nach dem Leben Trachtens gem. § 2333 Nr. 1 BGB erfüllt hatte.

Die angegriffenen Entscheidungen im Verfahren 1 BvR 188/03 verletzten die Bf nicht in ihren Verfas­sungs­rechten. Der Pflicht­teils­ent­ziehung lag eine familiäre Konflikt­si­tuation zu Grunde, wie sie kennzeichnend für eine Enterbung ist und in der das Pflicht­teilsrecht gerade seine Funktion erfüllt.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 36/05 des BVerfG vom 03.05.2005

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