22.11.2024
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Dokument-Nr. 4531

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Bundesverfassungsgericht Urteil13.06.2007

BVerfG: Behörden dürfen Kontodaten abfragen - Vorschriften weitgehend verfas­sungsgemäßIn sozia­l­recht­lichen Angelegenheiten verstoßen die Vorschriften allerdings gegen den verfas­sungs­recht­lichen Bestimmt­heits­grundsatz

Die im Jahr 2005 eingeführten Vorschriften zum automatischen Kontenabruf für Behörden sind im Wesentlichen verfas­sungsgemäß. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Bei vermutetem Sozia­l­leis­tungs­betrug muss der Staat allerdings die Bedingungen noch präzisieren. Hier leiden die Vorschriften an einem Bestimmt­heits­mangel.

Gegenstand der Verfas­sungs­be­schwerden unter anderem eines inländisches Kreditinstituts, eines Rechtsanwalts und Notars, einer Bezieherin von Wohngeld sowie eines Empfängers von Sozialhilfe sind im Wesentlichen § 24 c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Kredit­we­sen­gesetz sowie § 93 Abs. 7 und 8 Abgabenordnung. Diese Normen ermächtigen die für die Leistung der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sowie die für die Strafverfolgung zuständigen Behörden und Gerichte, die Finanzbehörden und die Sozialbehörden zur automatisierten Abfrage von bestimmten Daten, die von den Kredi­t­in­stituten vorgehalten werden müssen. Dabei handelt es sich um die Kontostammdaten der Bankkunden und sonstigen Verfü­gungs­be­rech­tigten, wie z.B. Name, Geburtsdatum, Kontonummern und Depots. Kontenstände und -bewegungen können auf diese Weise nicht abgefragt werden. Informationen hierüber können sich die Behörden nur auf der Grundlage anderer Ermäch­ti­gungs­normen beschaffen.

Erfolgreich waren allein die Verfas­sungs­be­schwerden der beiden Sozia­l­leis­tungs­emp­fänger, soweit sie sich gegen § 93 Abs. 8 AO richten. Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts stellte fest, dass § 93 Abs. 8 AO, der die Erhebung von Kontostammdaten in sozia­l­recht­lichen Angelegenheiten regelt, an einem Bestimmt­heits­mangel leidet. Die Norm legt den Kreis der Behörden, die ein Ersuchen zum Abruf von Kontostammdaten stellen können, und die Aufgaben, denen solche Ersuchen dienen sollen, nicht hinreichend bestimmt fest. Im Übrigen aber ist die Eingriffs­er­mäch­tigung des § 93 Abs. 8 AO verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, insbesondere genügt sie - soweit der Anwen­dungs­bereich in verfas­sungs­gemäßer Weise auf die Sicherung der Erhebung von Sozialabgaben und die Bekämpfung des Missbrauchs von Sozia­l­leis­tungen begrenzt wird - dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dem Gesetzgeber steht für eine verfas­sungs­gemäße Neuregelung eine Frist bis zum 31. Mai 2008 zur Verfügung. Bis dahin bleibt die Regelung mit der Maßgabe anwendbar, dass Abrufersuchen nach ihr allein zu dem Zweck zulässig sind, die Leistungs­be­rech­tigung für die im Anwen­dungs­erlass des Bundes­mi­nis­teriums für Finanzen vom 10. März 2005 genannten Sozia­l­leis­tungen zu überprüfen. § 24 c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG (Kontenabfrage durch Straf­ver­fol­gungs­be­hörden) und § 93 Abs. 7 AO (Kontenabfrage durch Finanzbehörden) hingegen sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. § 93 Abs. 8 AO verletzt die beiden Beschwer­de­führer, die Sozia­l­leis­tungen empfangen, in ihrem Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung. § 24 c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG und § 93 Abs. 7 AO sind dagegen mit dem Grundgesetz vereinbar.

1. Die in den angegriffenen Normen geregelten Datenabrufe greifen in das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung ein. Die auf ihrer Grundlage erfolgenden behördlichen Ermittlungen über Kontostammdaten können anschließende Maßnahmen vorbereiten, die ohne die erlangten Kenntnisse nicht möglich wären. Stellt sich anlässlich einer Kontenabfrage etwa heraus, dass der Betroffene über bislang unbekannte Konten oder Depots verfügt, kann die jeweils handelnde Behörde gegebenenfalls auf der Grundlage anderer Ermäch­ti­gungs­normen Informationen über deren Inhalt erheben. Solche Informationen ermöglichen einen Einblick in die Vermö­gens­ver­hältnisse des Betroffenen und lassen - gezielt zusam­men­ge­tragen - unter Umständen weitere Rückschlüsse auf sein Verhalten zu.

2. Regelungen, die zu Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung ermächtigen, müssen Anlass, Zweck und Grenzen präzise festlegen. Diesem Gebot der Normenklarheit und -bestimmtheit wird § 93 Abs. 8 AO nicht gerecht. Die Norm legt den Kreis der Behörden, die zu Abrufersuchen berechtigt sein sollen, und die Aufgaben, denen solche Ersuchen dienen sollen, nicht präzise genug fest. § 24 c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG und § 93 Abs. 7 AO hingegen genügen dem Bestimmt­heitsgebot.

Der Anwen­dungs­bereich von § 93 Abs. 8 AO und damit die Möglichkeit zur Kontenabfrage ist eröffnet, wenn die Sozialbehörde ein Gesetz anwendet, das an "Begriffe des Einkom­men­steu­er­ge­setzes" anknüpft. Selbst wenn man dies einengend in der Weise auslegt, dass ein Gesetz nur dann unter diese Vorschrift fällt, wenn es spezifisch einkom­men­steu­er­rechtliche Begriffe in Bezug nimmt, lässt sich der Norm weder eine gegenständliche Begrenzung des Anwen­dungs­be­reichs noch ein bereichs­s­pe­zi­fischer Zweck der jeweiligen Datenerhebung entnehmen. Auch an spezifisch einkom­men­steu­er­rechtliche Begriffe können Gesetze aus den unter­schied­lichsten Regelungs­ge­bieten anknüpfen, etwa Normen aus nahezu dem gesamten Bereich der Leistungs­ver­waltung. Damit wird in § 93 Abs. 8 AO das Instrument des automatisierten Abrufs von Kontostammdaten für eine unübersehbare Vielzahl von Gesetzeszwecken zur Verfügung gestellt. Es ist nicht ersichtlich, dass die unbestimmte Fassung des § 93 Abs. 8 AO besonderen Regelungs­schwie­rig­keiten geschuldet wäre. Mit der Norm sollen insbesondere der Missbrauch von Sozia­l­leis­tungen und die Nichtabführung von Sozialabgaben bekämpft werden. Die auf solche Bereiche bezogenen behördlichen Ermittlungen lassen sich nach Anlass und Gegenstand typisieren und auf bestimmte normative Zusammenhänge zuschneiden. So wäre es ohne weiteres möglich gewesen, die Gesetze, zu deren Vollzug ein Kontenabzug zulässig sein soll, in § 93 Abs. 8 AO enumerativ aufzuzählen.

§ 24 c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG und § 93 Abs. 7 AO hingegen genügen dem Bestimmt­heitsgebot. Die Normen benennen die zur Infor­ma­ti­o­ns­er­hebung berechtigte Behörde sowie die tatbe­stand­lichen Voraussetzungen des Kontenabrufs hinreichend präzise. Zudem wird deutlich, welche Informationen erhoben werden dürfen.

3. Die in § 24 c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG und § 93 Abs. 7 AO enthaltenen Eingriffs­er­mäch­ti­gungen genügen auch dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit. Gleiches gilt für § 93 Abs. 8 AO, wenn die dargelegte Unbestimmtheit dieser Vorschrift in verfas­sungs­gemäßer Weise behoben wird.

Die Vorschriften dienen Gemein­wohl­be­langen von erheblicher Bedeutung. § 24 c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG hat die wirksame Strafverfolgung und Rechtshilfe in Strafsachen zum Ziel; § 93 Abs. 7 AO verfolgt die steuerliche Belas­tungs­gleichheit. Auch die Ziele von § 93 Abs. 8 AO haben erhebliches Gewicht, wenn der Anwen­dungs­bereich dieser Norm auf die Verfolgung bedeutsamer Gemein­wohl­belange begrenzt wird, nämlich auf die Sicherung der Erhebung von Sozialabgaben und die Bekämpfung des Missbrauchs von Sozia­l­leis­tungen.

Zu diesen Gemein­wohl­be­langen stehen die durch die Regelungen ermöglichten Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung nicht außer Verhältnis. Die durch den Kontenabruf erlangten Informationen - die bloßen Kontostammdaten - haben bei isolierter Betrachtung keine besondere Persön­lich­keits­re­levanz, zumal die Behörde über die Kontoinhalte nichts erfährt. Eine Unange­mes­senheit der angegriffenen Regelungen ergibt sich auch nicht insoweit, als Rechts­schutz­mög­lich­keiten infolge der Heimlichkeit des Abrufs begrenzt sind. Wird die Ermittlung gegenüber dem Betroffenen geheim gehalten, erhöht dies zwar die Intensität des Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung. Diesen Umstand muss die Behörde aber bei der Entscheidung darüber berücksichtigen, ob im Einzelfall ohne vorherige Information des Betroffenen heimlich auf seine Kontostammdaten zugegriffen werden darf oder ob eine grund­rechts­scho­nendere Ermitt­lungs­maßnahme, wie etwa eine offene Datenerhebung, in Betracht kommt. Kontenabrufe stehen daher unter dem Gebot der Erfor­der­lichkeit. Schließlich wahrt auch die Gestaltung der Eingriffs­schwellen in den angegriffenen Normen den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit. Die Normen erlauben Kontenabrufe nur im Rahmen konkreter Verdachts­momente. Routinemäßige oder anlasslose Abrufe "ins Blaue hinein" sind danach unzulässig.

II. Die in den angegriffenen Normen vorgesehenen Datenabrufe verletzen dagegen nicht das Recht des beschwer­de­füh­renden Kreditinstituts auf informationelle Selbst­be­stimmung. Das Interesse eines Kreditinstituts an der Geheimhaltung seiner Geschäfts­be­zie­hungen ist nur insoweit grundrechtlich geschützt, als seine Beein­träch­tigung auf die eigene wirtschaftliche Tätigkeit des Kreditinstituts zurückwirken kann. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, soweit - wie hier - die Geschäfts­be­zie­hungen allein im Rahmen von Ermittlungen zur Kenntnis genommen werden, die sich gegen die Kunden richten.

III. § 24 c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG und § 93 Abs. 7 AO verletzen nicht die Berufsfreiheit des beschwer­de­füh­renden Rechtsanwalts und Notars. Die Maßnahmen, die auf der Grundlage der gerügten Normen ergriffen werden, beeinträchtigen das Vertrau­ens­ver­hältnis zwischen dem Rechtsanwalt/Notar und seinen Mandanten nicht. Ein verfas­sungs­rechtlich geschütztes Vertrauen kann der Mandant eines Rechtsanwalts in dessen Verschwie­genheit nur insoweit entwickeln, als der Rechtsanwalt über entsprechende tatsächliche Möglichkeiten der Einflussnahme verfügt. Das ist vorliegend nicht der Fall. Die Normen sehen Infor­ma­ti­o­ns­er­he­bungen nicht bei den Rechtsanwälten, die Anderkonten für ihre Mandanten führen, sondern bei den kontoführenden Kredi­t­in­stituten vor. Kommt es zu einer solchen Erhebung, so realisiert sich ein Offen­ba­rungs­risiko, das der Vereinbarung, bestimmte Gelder auf einem Bankkonto treuhänderisch zu verwalten, immanent ist und das der Rechtsanwalt von vorneherein nicht beherrschen kann.

IV. Die angegriffenen Normen werden auch den grund­recht­lichen Anforderungen an einen tatsächlich wirkungsvollen Rechtsschutz gerecht. Das jeweilige Verfahrensrecht gewährleistet dem von einem Kontenabruf Betroffenen ein grundsätzliches Auskunftsrecht, von dem er spätestens dann auch tatsächlich Gebrauch machen kann, wenn die jeweilige Behörde das Ergebnis des Kontenabrufs mit für ihn nachteiligen Folgen verwertet hat. Bei der Anwendung der Normen, aus denen sich das Auskunftsrecht ergibt, haben die Behörde die Anforderungen der Rechts­schutz­ga­rantie zu beachten. Insbesondere soweit den Finanzbehörden ein Auskunft­s­er­messen zugestanden wird, ist dieses zugunsten des Betroffenen reduziert, wenn und solange nicht der Auskunft­s­er­teilung ein besonderes Geheim­hal­tungs­in­teresse von überwiegendem Gewicht entgegensteht. Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, eine Pflicht der jeweils handelnden Behörde zur Benach­rich­tigung des Betroffenen nach jedem Kontenabruf vorzusehen. Bleibt der Kontenabruf für den Betroffenen ohne nachteilige Folgen, wiegt dessen Feststellungs- und Unter­las­sungs­in­teresse nicht so schwer, dass ihm stets aktiv die für eine gerichtliche Geltendmachung erforderlichen Kenntnisse verschafft werden müssten.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 78/06 des BVerfG vom 12.07.2007

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