18.10.2024
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Dokument-Nr. 568

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Bundesverfassungsgericht Urteil07.06.2005

Kinder sind ihren Eltern gegenüber nur eingeschränkt unter­halts­pflichtigBVerfG zum Unterhalt für pflege­be­dürftige Mutter - Verfas­sungs­be­schwerde der Tochter erfolgreich

Die Verfas­sungs­be­schwerde (Vb) der Beschwer­de­führerin (Bf), die aus übergegangenem Recht vom Sozia­l­hil­fe­träger zur Zahlung von Unterhalt für ihre pflege­be­dürftige Mutter herangezogen worden ist, war erfolgreich.

Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob das Urteil des Landgerichts (LG) Duisburg auf, da es die Bf in ihrer von Art. 2 Abs. 1 GG geschützten finanziellen Dispo­si­ti­o­ns­freiheit verletzt. Die Sache wurde an das LG zurückverwiesen.

Sachverhalt:

Die pflege­be­dürftige Mutter der Beschwer­de­führerin (Bf) lebte in den letzten vier Jahren vor ihrem Tod (1995) in einem Alten- und Pflegeheim. Da die Einkünfte der Mutter zur Begleichung der Heimpf­le­ge­kosten nicht ausreichten, leistete ihr die Stadt Bochum als örtlicher Träger der Sozialhilfe laufende monatliche Hilfe in Höhe von insgesamt ca. 123.000,-- DM.

Die 1939 geborene Bf war seit ihrem 15. Lebensjahr berufstätig. Sie hatte bis zum Zeitpunkt ihrer betrie­bs­be­dingten Kündigung im Herbst 1996 aus ihrer Halbtag­s­tä­tigkeit zuletzt ein Nettoeinkommen von ca. 1.100,-- DM monatlich erzielt. Der Ehemann der Bf, von dem sie seit 1994 ge- trennt lebt, ist technischer Angestellter und seit 1995 Rentner. Die kinderlosen Eheleute sind Eigentümer zu je ½ eines mit einem Vier- Familienhaus bebauten Grundstücks. Eine der vier Wohnungen bewohnt die Bf, die drei übrigen Wohnungen sind vermietet. Der Grund­s­tück­s­anteil der Bf hat abzüglich der Belastungen einen Verkehrswert von 245.000,-- DM. Die monatlichen Belastungen für das Grundstück übersteigen die Nettoeinnahmen.

Die Stadt Bochum verklagte die Bf aus übergeleitetem Recht auf Zahlung von Elternunterhalt. Die Klage vor dem Amtsgericht war erfolglos. Mit letzt­in­sta­nz­lichem Urteil stellte das Landgericht Duisburg eine Zahlungspflicht der Bf in Höhe von 123.306,88 DM fest. Zugleich verurteilte es die Bf, das Angebot der Stadt Bochum anzunehmen, wonach der vorgenannte Betrag als zinsloses Darlehen gewährt wird, das drei Monate nach dem Tod der Bf zur Rückzahlung fällig ist. Zudem wurde die Bf verurteilt, zur Sicherung des Darlehens eine Grundschuld in Höhe von 123.000,-- DM auf ihrem Mitei­gen­tums­anteil am Hausgrundstück zu bestellen.

Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde (Vb) rügt die Bf einen Verstoß gegen die allgemeine Handlungs­freiheit sowie gegen die Eigen­tums­ga­rantie. Die ihr auferlegte Unter­halts­ver­pflichtung und Beleihung ihres Mitei­gen­tums­anteils mit einer Grundschuld überschreite ihre eigene Leistungs­fä­higkeit. Durch die Verurteilung sei ihr eigener Altersunterhalt gefährdet. Denn das Grundstück sei zum Zwecke der Alters­ab­si­cherung erworben worden. Außerdem habe mangels Leistungsfähig- keit für sie eine Barun­ter­halts­ver­pflichtung gegenüber ihrer Mutter nicht bestanden. Die Begründung einer Unter­halts­ver­pflichtung durch darlehensweise Gewährung von Unterhalt sei nicht möglich.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die der Bf vom LG auferlegte Verpflichtung zur Annahme eines zinslosen Darlehens und zur Bewilligung einer Grundschuld auf ihren Mitei­gen­tums­anteil entbehrt jeder Rechtsgrundlage und steht in krassem Widerspruch zu allen zur Anwendung gebrachten Normen. Das Gericht hat sich mit seiner Entscheidung der Bindung an Gesetz und Recht entzogen und damit die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Handlungs­freiheit der Bf in nicht mehr durch die verfas­sungs­mäßige Ordnung legitimierter Weise beschränkt.

1. Die Leistungs­fä­higkeit der Bf ist - auch nach Auffassung des LG - erst mit dem Darle­hens­angebot des Sozia­l­hil­fe­trägers, also nach dem Tod ihrer Mutter, entstanden. Damit hat das Gericht einen Unter­halts­an­spruch für einen vergangenen Zeitraum mit einer Leistungs­fä­higkeit der Bf begründet, die erst nach dem Wegfall der Bedürftigkeit der Mutter eingetreten ist. Dies widerspricht schon in Wortlaut und Systematik den hier maßgeblichen unterhalts- und sozia­l­hil­fe­recht­lichen Regelungen. Ein Unter­halts­an­spruch nach § 1601 BGB besteht nur dann, wenn Bedürftigkeit beim Unter­halts­be­rech­tigten und Leistungs­fä­higkeit beim Unter­halts­pflichtigen zeitgleich vorliegen. Auch §§ 90, 91 BSHG, die die Überleitung von Unter­halts­ansprüchen ermöglichen, die dem Hilfeempfänger im Zeitraum der Hilfeleistung zustehen, gehen von einer zeitlichen Kongruenz zwischen Bedürftigkeit und Leistungs­fä­higkeit aus. Die Heranziehung von § 89 BSHG zur Begründung eines Unter­halts­an­spruchs steht in klarem Widerspruch zum Wortlaut dieser Norm und zu ihrer systematischen Einbindung in das sozia­l­hil­fe­rechtliche Gefüge.

2. Die Auslegung des LG widerspricht auch dem Zweck der angewendeten Normen. Dem Grundsatz des Sozia­l­hil­fe­rechts, einen Rechtsanspruch auf Hilfe - wenn auch gegenüber einem Unter­halts­an­spruch nur nachrangig - zu geben, läuft zuwider, mit Hilfe eines vom Sozia­l­hil­fe­träger gewährten Darlehens einen zivilrechtlich nicht gegebenen Unter­halts­an­spruch sozia­l­hil­fe­rechtlich begründen zu wollen. Diese rechtliche Konstruktion würde letztlich Sozia­l­hil­feansprüche gänzlich zum Wegfall bringen. Denn wenn mit Hilfe eines Darlehens die Leistungs­fä­higkeit eines Unter­halts­pflichtigen hergestellt werden könnte, läge es in der Hand des Sozia­l­hil­fe­trägers, einen Sozia­l­hil­fean­spruch nicht zum Tragen kommen zu lassen. Dies hätte zur Folge, dass ein Bedürftiger zwar selbst mit der Geltendmachung eines Unter­halts­an­spruchs gegenüber einem nicht leistungs­fähigen Unter­halts­pflichtigen scheitern würde, der Sozia­l­hil­fe­träger jedoch mit einem entsprechenden Darle­hens­angebot den Unter­halts­an­spruch begründen und sich damit von seiner Verpflichtung zur Sozia­l­hil­fe­ge­währung befreien könnte. Es liefe außerdem dem Sozial­staatsgebot zuwider, das fordert, Menschen einen Anspruch auf staatliche Hilfe zukommen zu lassen, um so ihr Existenzminimum zu sichern.

3. Schließlich widerspricht die Auslegung des LG auch dem Willen des Gesetzgebers. Er hat dem Elternunterhalt gegenüber dem Kindesunterhalt nicht nur nachrangiges Gewicht verliehen (§ 1609 BGB), sondern auch den Umfang der Verpflichtung deutlich gegenüber der Pflicht zur Gewährung von Kindesunterhalt eingeschränkt (§ 1603 Abs. 1 BGB). Die nachrangige Behandlung des Eltern­un­terhalts entspricht der grundlegend anderen Lebenssituation, in der die Unter­halts­pflicht jeweils zum Tragen kommt. Bei der Pflicht zum Elternunterhalt ist dies meist dann der Fall, wenn die Kinder längst eigene Familien gegründet haben, sich Unter­halts­ansprüchen ihrer eigenen Kinder und Ehegatten ausgesetzt sehen, sowie für sich selbst und für die eigene Alters­ab­si­cherung zu sorgen haben. Dazu tritt nun ein Unter­halts­bedarf eines oder beider Elternteile im Alter hinzu, der mit deren Einkommen, insbesondere ihrer Rente, vor allem im Pflegefall nicht abgedeckt werden kann. Diesen sich kumulierenden Anforderungen hat der Gesetzgeber Rechnung getragen, indem er sichergestellt hat, dass dem Kind ein seinen Lebensumständen entsprechender eigener Unterhalt verbleibt.

Die vom Gesetzgeber dem Elternunterhalt zugewiesene, relativ schwache Rechtsposition wird durch die neuere Entwicklung der Gesetzgebung aus jüngerer Zeit noch untermauert. Mit der schrittweisen Reduzierung der Leistungen der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung und der Einführung der gesetzlich geförderten privaten Altersvorsorge ("Riester-Rente") hat der Gesetzgeber die Verantwortung jedes Einzelnen hervorgehoben, für seine Alterssicherung neben der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung rechtzeitig und ausreichend vorzusorgen. Dies muss bei der Bestimmung des einem unter­halts­pflichtigen Kind verbleibenden angemessenen Unterhalts Berück­sich­tigung finden. Insbesondere aber hat der Gesetzgeber mit der Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwer­bs­min­derung ab 1. Januar 2003 durch das Grund­si­che­rungs­gesetz und seit dem 1. Januar 2005 durch die §§ 41 ff. SGB XII verdeutlicht, dass die Belastung erwachsener Kinder durch die Pflicht zur Zahlung von Elternunterhalt unter Berück­sich­tigung ihrer eigenen Lebenssituation in Grenzen gehalten werden soll.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 10/2005 und 46/2005 des BVerfG vom 28.01.2005 und vom 07.06.2005

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