22.11.2024
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Dokument-Nr. 637

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Bundesverfassungsgericht Beschluss24.05.2005

Erfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde gegen Aufnahme in Verfas­sungs­schutz­bericht

Die Beschwer­de­führerin (Bf) ist Verlegerin und Herausgeberin der Wochenzeitung "Junge Freiheit". Ihre Verfas­sungs­be­schwerde (Vb), mit der sie sich gegen die Aufnahme ihrer Wochenzeitung in die Verfas­sungs­schutz­be­richte des Landes Nordrhein-Westfalen der Jahre 1994 und 1995 wandte, war erfolgreich. Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob die angegriffenen Entscheidungen des Verwal­tungs­ge­richts (VG) und Oberver­wal­tungs­ge­richts (OVG) auf, da sie die Beschwer­de­führerin (Bf) in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzen. Die Sache wurde an das VG zurückverwiesen. Dieses hat unter Berück­sich­tigung der vom Senat dargestellten verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen erneut zu prüfen, ob die tatsächlichen Anhaltspunkte für einen Verdacht verfas­sungs­feind­licher Bestrebungen der Bf ausreichen. Insbesondere ist erneut zu bewerten, ob der Bf die in Artikeln Dritter, die nicht der Redaktion angehören, veröf­fent­lichten verfas­sungs­feind­lichen Positionen zugerechnet werden können.

Sachverhalt:

Das Innen­mi­nis­terium des Landes Nordrhein-Westfalen gibt jährlich Verfas­sungs­schutz­be­richte zur Information der Öffentlichkeit heraus. Rechtsgrundlage ist § 15 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfas­sungs­schutz in Nordrhein-Westfalen (VSG NRW). Diese Norm enthält eine Ermächtigung zur Information der Öffentlichkeit in Verfas­sungs­schutz­be­richten, um über verfas­sungs­feindliche Bestrebungen und Tätigkeiten aufzuklären. In den Berichten über die Jahre 1994 und 1995 wurde die „Junge Freiheit“ im Rahmen der Berich­t­er­stattung über recht­s­ex­tre­mis­tische Bestrebungen ausführlich behandelt. Die in ihr veröf­fent­lichten Beiträge enthielten nach Einschätzung des Landes Anhaltspunkte für den Verdacht verfas­sungs­feind­licher Bestrebungen. Zum Beleg greifen die Verfas­sungs­schutz­be­richte einzelne Artikel aus der "Jungen Freiheit" heraus, um auf dieser Grundlage ein Gesamturteil über die Zeitung und die hinter ihr stehende Gruppierung zu begründen.

Das VG wies die von der Bf erhobene Klage unter anderem mit der Begründung ab, dass die Aufnahme von Passagen über die "Junge Freiheit" in die Verfas­sungs­schutz­be­richte den Schutzbereich der Pressefreiheit nicht berühre. Mit der gleichen rechtlichen Begründung wies das OVG den Antrag auf Zulassung der Berufung zurück. Die gegen die gerichtlichen Entscheidungen gerichtete Vb hatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die Nennung der Wochenzeitung der Bf im Verfas­sungs­schutz­bericht berührt das Grundrecht der Pressefreiheit. Durch die Erwähnung im Verfas­sungs­schutz­bericht wird die Bf zwar nicht gehindert, die Zeitung weiter zu vertreiben und auch zukünftig Artikel wie die beanstandeten abzudrucken. Ihre Wirkungs­mög­lich­keiten werden jedoch nachteilig beeinflusst. Potenzielle Leser können davon abgehalten werden, die Zeitung zu erwerben, und es ist nicht unwahr­scheinlich, dass etwa Inserenten, Journalisten oder Leser­brief­schreiber die Erwähnung im Verfas­sungs­schutz­bericht zum Anlass nehmen, sich von der Zeitung abzuwenden oder sie zu boykottieren. Dies kommt einem Eingriff in die Pressefreiheit gleich.

2. Ein Eingriff in die Pressefreiheit bedarf der Rechtfertigung durch ein allgemeines Gesetz (Art. 5 Abs. 2 GG). Ein solches Gesetz ist § 15 Abs. 2 VSG NRW. Bei der Nutzung der Ermächtigung des § 15 Abs. 2 VSG NRW zur Veröf­fent­lichung von Informationen im Verfas­sungs­schutz­bericht ist der Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz zu beachten. Um den Verdacht einer verfas­sungs­feind­lichen Bestrebung zu bejahen oder die negative Sanktion einer Veröf­fent­lichung im Verfas­sungs­schutz­bericht zu ergreifen, müssen hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Die bloße Kritik an Verfas­sungs­werten reicht nicht aus. Denn die Meinungs- und Pressefreiheit lässt auch eine kritische Ausein­an­der­setzung mit Verfas­sungs­grund­sätzen zu. Lassen sich aber aus den Meinung­s­äu­ße­rungen Bestrebungen zur Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ableiten, dürfen Maßnahmen zur Verteidigung dieser Grundordnung ergriffen werden. Dabei können auch einzelne Zeitungsartikel zur Begründung herangezogen werden, wenn sie aus sich heraus oder im Zusammenwirken mit anderen Befunden auf verfas­sungs­feindliche Bestrebungen hindeuten. Auch Artikel, die die Mitglieder der Redaktion nicht selbst verfasst haben, dürfen einbezogen werden. In diesem Fall bedarf es aber besonderer Anhaltspunkte, warum aus den Artikeln von Dritten, die der Redaktion nicht angehören, entsprechende Bestrebungen von Verlag und Redaktion abgeleitet werden können. Dies kann der Fall sein, wenn durch die redaktionelle Auswahl der von Dritten geschriebenen Veröf­fent­li­chungen verfas­sungs­feindliche Bestrebungen von Verlag und Redaktion zum Ausdruck kommen.

3. Die Begründung der Fachgerichte, warum die zum Beleg herangezogenen Artikel Ausdruck der verfas­sungs­feind­lichen Bestrebungen von Verlag und Redaktion und nicht nur ihrer Autoren sein sollen, genügt nicht den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen. Die Gerichte sind irrig davon ausgegangen, die „Junge Freiheit“ könne allein deshalb nicht als „Markt der Meinungen“ verstanden werden, weil sie nur für ein bestimmtes politisches Spektrum offen stehe. Von der Pressefreiheit ist auch die Entscheidung erfasst, ein Forum nur für ein bestimmtes politisches Spektrum zu bieten, dort aber den Autoren große Freiräume zu gewähren und sich in der Folge nicht mit allen einzelnen Veröf­fent­li­chungen zu identifizieren. Die Fachgerichte werden daher erneut bewerten müssen, ob die tatsächlichen Anhaltspunkte für einen Verdacht verfas­sungs­feind­licher Bestrebungen der Bf auch unter Berück­sich­tigung dieser Grundsätze ausreichen.

Ferner haben sie zu prüfen, ob die Art der Veröf­fent­lichung den Anforderungen des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes entsprach. Obwohl die Behörde nur von Anhaltspunkten für einen Verdacht ausgegangen ist, hat sie die Bf ohne jede Differenzierung in der Gliederung oder in den Überschriften des Berichts auf die gleiche Stufe gestellt wie Gruppen, für die sie verfas­sungs­feindliche Bestrebungen festgestellt hat. Es könnte ein milderes Mittel sein, durch die Gestaltung des Berichts eindeutig klar zu stellen, dass die verfas­sungs­feind­lichen Bestrebungen keineswegs festgestellt sind.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 57/05 des BVerfG vom 28.06.2005

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