15.11.2024
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Dokument-Nr. 15044

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Beschluss18.12.2012Bundesverfassungsgericht1 BvL 8/11 und 1 BvL 22/11
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • JuS 2013, 571Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2013, Seite: 571
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Bundesverfassungsgericht Beschluss18.12.2012

Selbst­titulierungs­recht mit Grundgesetz unvereinbarRegelungen dürfen nur noch im Rahmen einer Überg­angs­re­gelung weiter angewendet werden

Das Selbst­titulierungs­recht zu Gunsten der Bremer Landesbank Kreditanstalt Oldenburg - Girozentrale - und der Landessparkasse zu Oldenburg verstößt gegen den Gleichheitssatz. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht auf Richtervorlagen des Oberlan­des­ge­richts und des Amtsgerichts Oldenburg. Die entsprechenden Regelungen des nieder­säch­sischen Landesrechts sind mit dem Grundgesetz unvereinbar und dürfen daher nur noch im Rahmen einer Überg­angs­re­gelung weiter angewendet werden.

Die beiden Richtervorlagen betreffen zwei weitgehend inhaltsgleiche Bestimmungen des nieder­säch­sischen Landesrechts. Diese gewähren zwei öffentlich-rechtlichen Kredi­t­in­stituten das Recht, die Zwangs­voll­streckung ihrer Forderungen aufgrund eines von ihnen selbst gestellten Antrags zu betreiben, der einen vollstreckbaren Titel ersetzt (so genanntes Selbst­ti­tu­lie­rungsrecht). Zur Durchsetzung ihrer Forderungen müssen diese Kreditinstitute also nicht zuvor ein Urteil in einem Zivilprozess oder einen Titel im Mahnverfahren erwirken.

Sachverhalt

Die Vorlage des Oberlan­des­ge­richts Oldenburg - 1 BvL 8/11 - betrifft eine Vorschrift des nieder­säch­sischen Landesrechts, die der Bremer Landesbank Kreditanstalt Oldenburg - Girozentrale - ein Selbst­ti­tu­lie­rungsrecht einräumt. Die Vorlage des Amtsgerichts Oldenburg - 1 BvL 22/11 - bezieht sich auf eine weitgehend inhaltsgleiche Regelung, die zu Gunsten der Landessparkasse zu Oldenburg wirkt.

Vorschriften stellen Vollstre­ckungs­anträge mit vollstreckbaren Titel gleich

Die beiden genannten Kreditinstitute treiben ihre Forderungen nach geltendem Recht im zivil­pro­zess­recht­lichen Zwangs­voll­stre­ckungs­ver­fahren bei. Die zur Prüfung vorgelegten Vorschriften stellen die Vollstre­ckungs­anträge der beiden Kreditinstitute einem vollstreckbaren Titel gleich. Sie befreien die genannten Kreditinstitute davon, einen Vollstreckungstitel und eine Vollstre­ckungs­klausel nachweisen zu müssen.

Gläubiger muss Anspruch regulär per Klageverfahren titulieren lassen

Ohne Selbst­ti­tu­lie­rungsrecht müssen Gläubiger eines Anspruchs grundsätzlich Klage erheben, um den Anspruch titulieren zu lassen (§ 704 ZPO). In der Bankpraxis ist es zudem üblich, dass sich Kreditinstitute bei dinglich besicherten Darlehen eine notariell beurkundete Unterwerfung unter die sofortige Zwangs­voll­streckung erteilen lassen (§ 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO). Diese ist jedoch mit Notarkosten verbunden. Zudem ermöglicht sie nicht die sofortige Vollstreckung; die Bank muss sich vom Notar zunächst eine vollstreckbare Ausfertigung erteilen lassen, den Schuldtitel dem Schuldner zustellen und danach eine zweiwöchige Wartefrist einhalten.

Vorgelegte Regelung gewährt nur einzelnen Banken Selbst­ti­tu­lie­rungsrecht

Die vorgelegten Regelungen sind mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar. Sie gewähren nur der Bremer Landesbank Kreditanstalt Oldenburg - Girozentrale - und der Landessparkasse zu Oldenburg ein Selbst­ti­tu­lie­rungsrecht. Zugunsten von drei weiteren öffentlich-rechtlichen Kredi­t­in­stituten existiert in Niedersachsen eine inhaltsgleiche Vorschrift, die jedoch nicht zur Prüfung vorgelegt ist. Den nieder­säch­sischen Privatbanken, den in Niedersachen tätigen überregionalen Privatbanken und den übrigen nieder­säch­sischen Sparkassen steht eine solche Befugnis nicht zu.

Rechtfertigende Gründe für Ungleich­be­handlung der begünstigten Kreditinstitute nicht erkennbar

Es sind keine tragfähigen sachlichen Gründe erkennbar, die diese Ungleich­be­handlung der begünstigten Kreditinstitute rechtfertigen könnten. Eine Rechtfertigung folgt weder aus der Beschränkung ihres Gewinn­er­zie­lungs­in­teresses durch öffentliche Belange noch aus ihrem öffentlichen Auftrag, alle Bevöl­ke­rungs­kreise und insbesondere den Mittelstand mit kredit­wirt­schaft­lichen Leistungen zu versorgen. Diese Ziel- und Zweck­be­stim­mungen treffen in gleichem Maße auf alle anderen nieder­säch­sischen Sparkassen zu. Überdies fehlt es an einem hinreichend deutlichen inneren Zusammenhang mit der vollstre­ckungs­recht­lichen Begünstigung. Bei dem für die Selbst­ti­tu­lierung in erster Linie in Betracht kommenden Kreditgeschäft stehen die begünstigten Institute im Wettbewerb mit den Geschäftsbanken, denen kein Selbst­ti­tu­lie­rungsrecht zusteht. Dass die begünstigten Institute - wegen ihrer Verpflichtung zur Beachtung der Grundrechte als Anstalten des öffentlichen Rechts - den Schutz des Schuldners ohne vorhergehendes gerichtliches Verfahren zur Titulierung des Anspruchs gewährleistet sehen, rechtfertigt jedenfalls diesen Wettbe­wer­bs­vorteil gegenüber im selben Geschäftsfeld tätigen privaten Kredi­t­in­stituten nicht.

BVerfG bejaht weitere Anwendbarkeit der beanstandeten Vorschriften für alle bereits eingeleiteten Vollstre­ckungs­ver­fahren

Dies führt jedoch nicht zur sofortigen Nichtigkeit der vorgelegten Regelungen. Die noch nicht abgeschlossenen Zwangs­voll­stre­ckungen auf Grundlage der vorgelegten Normen wären im Falle der Nichti­g­er­klärung mit erheblichen Unsicherheiten belastet, die in vielen Vollstre­ckungs­ver­fahren von den Gerichten zu klären wären. Der Grundsatz der Rechts­si­cherheit gebietet daher die weitere Anwendbarkeit der beanstandeten Vorschriften für alle bereits eingeleiteten Vollstre­ckungs­ver­fahren. Zudem haben die betroffenen Kreditinstitute wegen des Selbst­ti­tu­lie­rungs­rechts bisher auf die übliche Bankpraxis verzichtet, sich bei dinglich besicherten Darlehen vom Schuldner die notariell beurkundete Unterwerfung unter die sofortige Zwangs­voll­streckung erteilen zu lassen. Den begünstigten Kredi­t­in­stituten ist daher eine Übergangsfrist von einem Jahr ab dem 31. Januar 2013 zu gewähren, in der die bisherigen Regelungen weiter Grundlage für die Zwangs­voll­streckung sein können. Über diesen Zeitpunkt hinaus bleibt die Selbst­ti­tu­lierung bei bestimmten Rechts­ge­schäften möglich, die vor dem 1. Februar 2013 abgeschlossen worden sind.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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