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Bundesverfassungsgericht Beschluss17.12.2013

Regelungen zur behördlichen Vaterschafts­anfechtung verfas­sungs­widrigZum Wegfall der Vaterschaft und der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit des Kindes führende Behör­de­nan­fechtung ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und damit nichtig

Die im Jahr 2008 eingeführten Regelungen zur behördlichen Vaterschafts­anfechtung sind verfas­sungs­widrig und nichtig. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht. Die Behör­de­nan­fechtung führt zum Wegfall der Vaterschaft und der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit des Kindes. Zwar verfolgt der Gesetzgeber damit den legitimen Zweck, zu verhindern, dass durch Vaterschafts­an­erkennung gezielt das Aufent­haltsrecht umgangen wird. In ihrer konkreten Ausgestaltung verstoßen die Regelungen jedoch gegen das Grundgesetz, da der weite Anfechtungs­tat­bestand auch Vaterschafts­an­erkennungen erfasst, die nicht die Umgehung des Aufent­halts­rechts bezwecken.

Mit Beschluss vom 15. April 2010 hat das Amtsgericht Hamburg-Altona ein Verfahren der Behör­de­nan­fechtung ausgesetzt, um die Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts darüber einzuholen, ob die hierfür maßgeblichen Regelungen mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Gesetzgebers befürchtet Ausnutzen der Vater­schafts­a­n­er­kennung zur Umgehung des Aufent­halts­rechts

Die Behör­de­nan­fechtung wurde im Jahr 2008 eingeführt. Hintergrund war der Eindruck des Gesetzgebers, dass die Vater­schafts­a­n­er­kennung in bestimmten Konstellationen zur Umgehung des Aufent­halts­rechts genutzt wird, insbesondere damit das Kind die deutsche Staats­an­ge­hö­rigkeit erwirbt und ein Aufent­haltsrecht der ausländischen Mutter entsteht.

Voraussetzungen und Verlauf der Behör­de­nan­fechtung einer Vater­schafts­a­n­er­kennung

Die Behör­de­nan­fechtung einer Vater­schafts­a­n­er­kennung setzt - neben dem Fehlen biologischer Vaterschaft - voraus, dass zwischen dem Kind und dem Anerkennenden keine sozial-familiäre Beziehung besteht oder im Zeitpunkt der Anerkennung oder seines Todes bestanden hat und durch die Anerkennung rechtliche Voraussetzungen für die erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufenthalt des Kindes oder eines Elternteils geschaffen werden (§ 1600 Abs. 3 BGB). Zudem ist eine Anfech­tungsfrist einzuhalten, wobei die Überlei­tungs­vor­schrift anordnet, dass diese nicht vor dem 1. Juni 2008 beginnt (Art. 229 § 16 EGBGB). Mit rechtskräftiger Entscheidung, dass eine Vaterschaft nicht besteht, entfallen die bisherige Vater­schafts­zu­ordnung, die dadurch begründete Staats­an­ge­hö­rigkeit des Kindes und das Aufent­haltsrecht der Mutter. Diese Rechtsfolgen wirken auf den Zeitpunkt der Geburt des Kindes zurück.

Erfolgreiche Behör­de­nan­fechtung greift in grundrechtlich gewährleisteten Schutz vor Wegfall der deutschen Staats­bür­ger­schaft ein

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Regelungen zur Behör­de­nan­fechtung mit dem Grundgesetz unvereinbar und damit nichtig sind. Art. 16 Abs. 1 GG schützt vor dem Wegfall der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit. Der Schutz gilt auch für Kinder, die die deutsche Staats­an­ge­hö­rigkeit aufgrund einer Vater­schafts­a­n­er­kennung erworben haben. Eine erfolgreiche Behör­de­nan­fechtung greift daher in diese grund­recht­lichen Gewähr­leis­tungen ein.

Vorgehensweise stellt verbotene Entziehung der Staats­an­ge­hö­rigkeit dar

Weil die Betroffenen den Wegfall der Staats­an­ge­hö­rigkeit teils gar nicht, teils nicht in zumutbarer Weise beeinflussen können, handelt es sich um eine absolut verbotene Entziehung der Staats­an­ge­hö­rigkeit im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG.

Die Kinder können den Staats­an­ge­hö­rig­keits­verlust nicht selbst beeinflussen.

Staats­an­ge­hö­rig­keits­verlust entzieht sich bei Vater­schafts­an­fech­tungen vor Inkrafttreten der Regelungen zur Behör­de­nan­fechtung auch dem Einfluss der Eltern

Soweit Vater­schafts­an­fech­tungen erfasst werden, die vor Inkrafttreten der Regelungen zur Behör­de­nan­fechtung erfolgten, entzieht sich der Staats­an­ge­hö­rig­keits­verlust auch dem Einfluss der Eltern. Grundsätzlich kommt zwar in Betracht, den Kindern Einfluss­mög­lich­keiten ihrer Eltern zuzurechnen. Dabei kann ein Einfluss auf den Erwerb ausnahmsweise auch als Einfluss auf den Verlust der Staats­an­ge­hö­rigkeit gewertet werden, wenn die Betroffenen bereits beim Erwerb die Verantwortung für eine Instabilität der Staats­an­ge­hö­rigkeit tragen.

Bis zur Einführung der Behör­de­nan­fechtung durften die Eltern jedoch davon ausgehen, dass die Vater­schafts­a­n­er­kennung unabhängig von ihrem Zweck wirksam war. Sie mussten nicht damit rechnen, dass die Regelungen zur Behör­de­nan­fechtung auch Vater­schafts­a­n­er­ken­nungen erfassen, die bereits vor Inkrafttreten der Regelungen am 1. Juni 2008 erfolgt waren.

Beeinflussung eines Staats­an­ge­hö­rig­keits­verlust nach Inkrafttreten der Regelungen zur Behör­de­nan­fechtung zwar möglich, aber nicht ohne Weiteres zumutbar

Soweit Vater­schafts­a­n­er­ken­nungen betroffen sind, die nach Inkrafttreten der Regelungen zur Behör­de­nan­fechtung erfolgten, war es zwar möglich, aber nicht ohne Weiteres zumutbar, einen Staats­an­ge­hö­rig­keits­verlust dadurch zu beeinflussen, dass die „Eltern“ darauf verzichteten, eine behördlich anfechtbare Vater­schafts­a­n­er­kennung vorzunehmen.

Von Regelung betroffen sind Paare, von denen mindestens ein Elternteil keinen gesicherten Aufent­halts­status besitzt

Die Regelungen zur Vater­schafts­a­n­er­kennung statuieren grundsätzlich keine rechtliche Erwartung, auf bestimmte Vater­schafts­a­n­er­ken­nungen zu verzichten. Die Betroffenen können eine Vaterschaft durch Anerkennung aus beliebigen Motiven herbeiführen; das gilt auch dann, wenn sie damit rechnen oder sogar wissen, dass der Anerkennende nicht biologischer Vater des Kindes ist. Demgegenüber verlangen die Regelungen zur Behör­de­nan­fechtung von den Betroffenen unter den in § 1600 Abs. 3 BGB genannten Voraussetzungen, auf eine Vater­schafts­a­n­er­kennung zu verzichten, wenn sie nicht später den anfech­tungs­be­dingten Verlust der Staats­an­ge­hö­rigkeit des Kindes riskieren wollen. Betroffen sind nur binationale und ausländische Paare, von denen mindestens ein Elternteil keinen gesicherten Aufent­halts­status besitzt.

Möglichkeit der Behör­de­nan­fechtung muss auf Fälle spezifisch aufent­halts­rechtlich motivierter Vater­schafts­a­n­er­ken­nungen begrenzt bleiben

Unter den in § 1600 Abs. 3 BGB genannten Voraussetzungen auf eine Vater­schafts­a­n­er­kennung zu verzichten, ist zumutbar, soweit diese gerade auf die Erlangung aufent­halts­recht­licher Vorteile zielt, die das Aufent­haltsrecht an und für sich nicht gewährt. Erfolgt die Vater­schafts­a­n­er­kennung hingegen nicht gezielt gerade zur Umgehung des Aufent­halts­rechts, ist den Betroffenen nicht zuzumuten, auf die vom Gesetzgeber ansonsten ohne Ansehung der Motive eingeräumte Möglichkeit der Vater­schafts­a­n­er­kennung zu verzichten, die allen anderen Paaren in genau gleicher Lage offen steht. Die Möglichkeit der Behör­de­nan­fechtung muss daher auf die Fälle spezifisch aufent­halts­rechtlich motivierter Vater­schafts­a­n­er­ken­nungen begrenzt bleiben.

Fehlen sozial-familiären Beziehung zwischen Vater und Kind ist kein zuverlässiger Indikator für aufent­halts­rechtliche Gründe

Diese Begrenzung vermögen die vom Gesetzgeber gewählten Anfech­tungs­vor­aus­set­zungen nicht hinreichend zuverlässig zu leisten. Soweit § 1600 Abs. 3 BGB auf die Schaffung von Einreise- oder Aufent­halts­vor­aus­set­zungen abstellt, werden alle Vater­schafts­a­n­er­ken­nungen einbezogen, in denen die Mutter einen ungesicherten Aufent­halts­status hatte. Dass die Vater­schafts­a­n­er­kennung in diesen Fällen generell gerade zu aufent­halts­recht­lichen Zwecken erfolgt, ist weder im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren dargelegt worden noch sind dafür sonst Anhaltspunkte erkennbar. Auch das Fehlen einer sozial-familiären Beziehung zwischen Vater und Kind ist kein zuverlässiger Indikator. Eine sozial-familiäre Beziehung besteht im Regelfall dann, wenn der Vater mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat (§ 1600 Abs. 4 BGB). Dieses Erfordernis ist im hiesigen Zusammenhang zu eng, weil es nicht mit hinreichender Treffsicherheit darauf schließen lässt, dass die Vater­schafts­a­n­er­kennung gerade zur Umgehung des Aufent­halts­rechts erfolgte.

Dieses Defizit lässt sich angesichts der Geset­zes­sys­tematik nicht durch Auslegung beheben. Die sozial-familiäre Beziehung zwischen Kind und rechtlichem Vater ist zugleich negatives Tatbe­stands­merkmal der Vater­schafts­an­fechtung durch den biologischen Vater und gewährleistet dort die Verfas­sungs­mä­ßigkeit der Einschränkung der Grundrechte des biologischen Vaters. Obwohl sie dort in ganz anderem Grund­rechts­zu­sam­menhang steht als bei der Behör­de­nan­fechtung, ist sie für beide Konstellationen in § 1600 Abs. 4 BGB einheitlich definiert. Die Doppelfunktion lässt es nicht zu, das Tatbe­stands­merkmal im Zusammenhang mit der Behör­de­nan­fechtung weit auszulegen, weil es im Rahmen der Anfechtung durch den biologischen Vater aus verfas­sungs­recht­lichen Gründen tendenziell eng auszulegen ist.

Negativmerkmal der sozial-familiären Beziehung darf nicht einziges Bewer­tungs­kri­terium sein

Die Zumutbarkeit wird auch nicht dadurch begründet, dass sich das behördliche Anfech­tungsrecht - mangels äußerer Unter­scheid­barkeit gerade aufent­halts­rechtlich motivierter Vater­schafts­a­n­er­ken­nungen von sonstigen Vater­schafts­a­n­er­ken­nungen - nur auf diese Weise durchsetzen ließe. Es ist nicht ausgeschlossen, treffgenauere Kriterien als das Negativmerkmal der sozial-familiären Beziehung zu verwenden. Selbst wenn diese nicht alle Fälle aufent­halts­rechtlich motivierter Vater­schafts­a­n­er­kennung vollständig erfassen sollten, wäre das hinnehmbar. Denn eine besondere Dringlichkeit, aufent­halts­rechtlich motivierte Vater­schafts­a­n­er­ken­nungen zu bekämpfen, ist weder im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren noch auf sonstige Weise erkennbar geworden.

Gesetzgeber hätte für den Fall der Staaten­lo­sigkeit Vorkehrungen treffen müssen

Die Regelungen zur Behör­de­nan­fechtung verstoßen darüber hinaus gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG. Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG darf der Verlust der Staats­an­ge­hö­rigkeit gegen den Willen der Betroffenen nur dann eintreten, wenn diese dadurch nicht staatenlos werden. Für den Fall der Staaten­lo­sigkeit hätte der Gesetzgeber eine Vorkehrung treffen müssen.

BVerfG verweist auf Verstoß gegen den Grundsatz des Geset­zes­vor­behalts

Darüber hinaus liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz des Geset­zes­vor­behalts vor. Entgegen Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG ist der Umstand, dass eine erfolgreiche Behör­de­nan­fechtung zum Verlust der Staats­an­ge­hö­rigkeit führt, nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, sondern ergibt sich erst aus der Anwendung ungeschriebener Rechtsregeln. Dies verstößt auch gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG.

Herbeiführung des Staats­an­ge­hö­rig­keits­verlusts ist aus Sicht des betroffenen Kindes gravierender Grund­recht­s­eingriff

Zudem wird der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit verletzt, weil es an einer angemessenen Fristen- und Altersregelung fehlt. Die Herbeiführung des Staats­an­ge­hö­rig­keits­verlusts ist aus Sicht des betroffenen Kindes ein gravierender Grund­recht­s­eingriff. Dessen Belas­tungs­wirkung nimmt mit dem Alter des betroffenen Kindes und mit der Zeitspanne zu, während der das Kind die deutsche Staats­an­ge­hö­rigkeit innehatte. Daher sind dem Staats­an­ge­hö­rig­keits­verlust jenseits des relativ frühen Kindesalters engere zeitliche Grenzen zu setzen. Dass damit nicht jede zu Umgehungs­zwecken erfolgte Vater­schafts­a­n­er­kennung im Wege der Behör­de­nan­fechtung rückgängig gemacht werden kann, ist auch angesichts der Zweifel an der Dringlichkeit einer solchen Regelung hinnehmbar.

Regelungen verstoßen gegen das Elternrecht und das Recht des Kindes auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung

Die Regelungen über die Behör­de­nan­fechtung verstoßen zudem gegen das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) sowie gegen das Recht des Kindes auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG). Eine verfas­sungs­rechtlich geschützte Elternschaft besteht auch dann, wenn die Vaterschaft durch Anerkennung begründet wurde und der Anerkennende weder der biologische Vater des Kindes ist noch eine sozial-familiäre Beziehung zum Kind begründet hat. Allerdings hängt die Intensität des verfas­sungs­recht­lichen Schutzes davon ab, ob die rechtliche Vaterschaft auch sozial gelebt wird. Soweit die Behör­de­nan­fechtung - nach den zu breit formulierten gesetzlichen Voraussetzungen - auch Vaterschaften erfasst, die nicht zur Umgehung des Aufent­halts­rechts anerkannt wurden, ist der Eingriff unver­hält­nismäßig.

BVerfG rügt Verstoß gegen das allgemeine Famili­en­grundrecht

Zudem liegt ein Verstoß gegen das allgemeine Famili­en­grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG vor. Die unnötig weit gefassten Anfech­tungs­vor­aus­set­zungen setzen nicht verheiratete, ausländische oder binationale Elternpaare, die keinen gemeinsamen Wohnsitz haben, generell dem Verdacht aus, die Vater­schafts­a­n­er­kennung allein aus aufent­halts­recht­lichen Gründen vorgenommen zu haben, und belasten ihr Familienleben mit behördlichen Nachforschungen. Eine präzisere Fassung der Anfech­tungs­vor­aus­set­zungen wäre auch insoweit verfas­sungs­rechtlich geboten.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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