21.11.2024
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Dokument-Nr. 5944

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Urteil22.04.2008BundessozialgerichtB 1 KR 10/07 R
Vorinstanzen:
  • Sozialgericht Mainz, , S 8 KR 101/04
  • Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, , L 5 KR 7/06
ergänzende Informationen

Bundessozialgericht Urteil22.04.2008

Bundes­so­zi­al­gericht zur Arzneizuzahlung von Arbeits­lo­sengeld II-Beziehern

Das Existenzminimum wird durch Zuzahlungen von 41,40 Euro im Jahr bei Arbeits­lo­sengeld II-Beziehern nicht unterschritten. Dies hat das Bundes­so­zi­al­gericht entschieden. Die Regelleistung von derzeit 347,- EUR liegt nach Auffassung der Richter deutlich über dem verfas­sungs­rechtlich geschützten Existenzminimum. Das Gericht wies damit die Klage eines Arbeitslosen ab. Dieser war der Meinung, dass Zuzahlungen von monatlich 3,45 EUR seine Menschenwürde verletzten.

Der 1955 geborene Kläger ist bei der beklagten Betrie­bs­kran­kenkasse (Taunus BKK) kranken­ver­sichert. Er war bis Ende 2003 gemäß § 61 SGB V aF von der Zuzahlungspflicht zu Arzneimitteln usw befreit. Er bezog Arbeits­lo­senhilfe in Höhe von wöchentlich 148,19 Euro. Das GKV-Gesund­heits­mo­der­ni­sie­rungs­gesetz (GMG) begründete neben Leistungs­kür­zungen zum 1. Januar 2004 Zuzah­lungs­pflichten ua für Arbeits­lo­senhilfe-Bezieher. Deshalb hob die Beklagte den Befrei­ungs­be­scheid auf und berief sich darauf, der Kläger habe als chronisch Erkrankter 1 vH der Bruttoeinnahmen als Zuzahlung zu entrichten. Sie befreite ihn erst im Oktober 2004 für den Rest des Jahres von weiteren Zuzahlungen.

Kläger sollte jährlich Zuzahlungen bis zu 41,40 EUR leisten

Die Beklagte setzte die Belas­tungs­grenze des Klägers für Zuzahlungen in den Jahren 2005 und 2006 auf jeweils 41,40 Euro fest und befreite ihn jeweils nach Zuzahlung dieses Betrags für den Rest des Jahres von weiteren Zuzahlungen. Der Kläger meint, er werde durch die ihm abverlangten Zuzahlungen unzumutbar und verfas­sungs­widrig belastet, weil deshalb sein Existenzminimum nicht mehr gewährleistet sei. Seine Klage ist in allen Instanzen erfolglos geblieben.

Bundes­so­zi­al­gericht sieht keinen Eingriff in das Existenzminimum

Das Bundes­so­zi­al­gericht konnte sich demgegenüber nicht von einem Eingriff in das Existenzminimum überzeugen. Der Kläger hatte ohne eigene Beitragslast im gesamten Zeitraum Anspruch auf alle GKV-Leistungen wie ein Beschäftigter. Zusätzlich erhielt er 2004 insgesamt 6.757,66 Euro Arbeits­lo­senhilfe, nahezu das Doppelte des Regelsatzes für einen Haushalts­vorstand in Rheinland-Pfalz. 2005 und 2006 bezog er 345 Euro als Regelleistung und zusätzlich Zahlungen für Unterkunft und Heizung. Die Darle­hens­re­gelung in § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II ermöglichte, dass der Zuzah­lungs­betrag von 41,40 Euro jährlich nicht vollständig auf einmal, sondern nur in monatlichen Raten zu jeweils 3,45 Euro zu entrichten war.

Gesetzgeber hat jenseits des "physischen Existenz­mi­nimums" weiten Gestal­tungs­spielraum

Das Grundgesetz garantiert mit der Menschenwürde und dem Sozial­staatsgebot, dass dem Einzelnen das Existenzminimum gewährleistet wird. Über dessen sozialrechtlich zu gewährende Mindesthöhe hat in erster Linie der Gesetzgeber zu entscheiden. Er darf dabei die jeweiligen gesamt­wirt­schaft­lichen Rahmen­be­din­gungen berücksichtigen. Je stärker der Gesetzgeber sich den denkbar untersten verfas­sungs­recht­lichen Grenzen des Existenz­mi­nimums nähern will, desto geringer wird sein Regelungs­spielraum. Zugleich müssen seine Ermitt­lungs­er­gebnisse im Tatsächlichen um so zuverlässiger sein. Bei wirtschaft­lichem Wohlstand in Deutschland, bei einer von Überfluss an materiellen Gütern geprägten Gesellschaft, ist der Gesetzgeber verfas­sungs­rechtlich verpflichtet, zwecks Achtung der Menschenwürde und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Inland lebenden Bedürftigen jedenfalls das zur physischen Existenz Unerlässliche zu gewähren. Jenseits der Bestimmung des "physischen Existenz­mi­nimums" steht ihm ein weites Gestal­tungs­er­messen zu.

Zuzah­lungs­pflicht vertretbar

Die Ausgestaltung der Zuzah­lungs­pflicht und der Sozia­l­leis­tungen für Leistungs­be­zieher nach dem SGB II zielt nicht auf die denkbar untersten verfas­sungs­recht­lichen Grenzen ab, das physische Existenzminimum, sondern geht darüber hinaus. Das Regelungs­ge­flecht knüpft an die frühere Bemessung der Regelsätze nach dem Bundes­so­zi­a­l­hil­fe­gesetz als einer eindeutig verfas­sungs­rechtlich gesicherten Grundlage an und bezieht auch die Gewährung eines sozio­kul­tu­rellen Leistungs­anteils mit ein. Der Gesetzgeber durfte wegen der neuen Koordinierung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe durch das SGB II zudem Erkenntnisse und Erfahrungen sammeln. Er hat vertretbar die Werte der Einkommens- und Verbrauchs­s­tichprobe von 1998 hochgerechnet.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des BSozG vom 22.04.2008

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