18.10.2024
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Sie sehen eine Szene aus einem Krankenhaus, speziell mit einem OP-Saal und einem Arzt im Vordergrund.

Dokument-Nr. 26983

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Urteil29.01.2019BundesgerichtshofVI ZR 495/16 und VI ZR 318/17
Vorinstanz:
  • Vorinstanzen zu VI ZR 495/16: Landgericht Essen - Urteil vom 2. November 2015 - 1 O 279/13 Oberlandesgericht Hamm - Urteil vom 7. September 2016 - I-3 U 6/16 Vorinstanzen zu VI ZR 318/17: Landgericht Essen - Urteil vom 5. September 2016 - 1 O 262/13 Oberlandesgericht Hamm - Urteil vom 5. Juli 2017 - I-3 U 172/16
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil29.01.2019

Ärzte haften bei mangelhafter Aufklärung über gesundheitliche Folgen einer OrganentnahmeBGH zur Haftung nach unzureichender Aufklärung von Organspendern vor einer Lebendspende

Der Bundes­ge­richtshof hat entschieden, dass formale Verstöße bei der Aufklärung von Organspendern vor einer Lebendspende nicht per se zu einer Unwirksamkeit der Einwilligung der Spender in die Organentnahme und zu deren Rechts­wid­rigkeit führen. Ein haftungs­begründender Aufklä­rungs­mangel liegt aber dann vor, wenn die Organspender inhaltlich nicht ordnungsgemäß über die gesund­heit­lichen Folgen der Organentnahme für ihre Gesundheit aufgeklärt werden.

Sachverhalt im Verfahren VI ZR 495/16

Die Klägerin des zugrunde liegenden Verfahrens spendete ihrem an einer chronischen Nieren­in­suf­fizienz auf dem Boden einer Leicht­ket­te­ner­krankung leidenden Vater im Februar 2009 eine Niere. Im Mai 2014 kam es zum Trans­plan­tat­verlust beim Vater. Die Klägerin behauptete, infolge der Organspende an einem chronischen Fatigue-Syndrom und an Nieren­in­suf­fizienz zu leiden und machte eine formal wie inhaltlich ungenügende Aufklärung geltend.

OLG: Formaler Verstoß bei Aufklä­rungs­ge­spräch führt nicht automatisch zur Unwirksamkeit der Einwilligung

Das Landgericht Essen wies die auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden gerichtete Klage ab. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Zwar hätten die Beklagten, ein Univer­si­täts­klinikum und dort tätige Ärzte, gegen verfah­rens­rechtliche Vorgaben aus § 8 Abs. 2 TPG (2007) verstoßen, weil weder eine ordnungsgemäße Niederschrift über das Aufklä­rungs­ge­spräch gefertigt noch das Aufklä­rungs­ge­spräch in Anwesenheit eines neutralen Arztes durchgeführt worden sei. Doch führe dieser formale Verstoß nicht automatisch zu einer Unwirksamkeit der Einwilligung der Klägerin in die Organentnahme. Eine Haftung der Beklagten folge auch nicht aus der inhaltlich unzureichenden Risiko­auf­klärung. Denn es greife der von den Beklagten erhobene Einwand der hypothetischen Einwilligung, da die Klägerin nicht plausibel dargelegt habe, dass sie bei ordnungsgemäßer Aufklärung von einer Organspende abgesehen hätte.

Sachverhalt im Verfahren VI ZR 318/17

Der Kläger spendete seiner an Nieren­in­suf­fizienz leidenden und dialy­se­pflichtigen Ehefrau im August 2010 ebenfalls eine Niere. Der Kläger behauptet, seit der Organentnahme an einem chronischen Fatigue-Syndrom zu leiden. Die Risiko­auf­klärung sei formal wie inhaltlich unzureichend gewesen.

OLG: Etwaige formale Verstöße begründeten keine Haftung

Das Landgericht Essen wies die auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens gerichtete Klage ab. Die Berufung des Klägers blieb ohne Erfolg. Etwaige formale Verstöße gegen § 8 Abs. 2 TPG (2007) begründeten keine Haftung. Eine solche folge auch nicht aus der inhaltlich fehlerhaften Risiko­auf­klärung, da der Kläger selbst bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Organentnahme eingewilligt hätte.

Verstöße gegen Form- und Verfah­rens­vor­schriften führen nicht per se zur Unwirksamkeit der Einwilligung

Der Bundes­ge­richtshof hob die Vorent­schei­dungen auf die Revisionen der Kläger auf und wies die Sachen zur Feststellung des Schadensumfangs an das Berufungs­gericht zurück. Zwar sind die Klagen nicht bereits wegen der festgestellten Verstöße gegen die Vorgaben des § 8 Abs. 2 Satz 3 (Anwesenheit eines neutralen Arztes beim Aufklä­rungs­ge­spräch) und Satz 4 (von den Beteiligten zu unter­schreibende Niederschrift über das Aufklä­rungs­ge­spräch) TPG begründet. Bei den unbeachtet gebliebenen Regelungen handelt es sich (lediglich) um Form- und Verfah­rens­vor­schriften, welche die Pflicht des Arztes zur Selbst­be­stim­mungs­auf­klärung des Spenders begleiten. Verstöße hiergegen führen nicht per se zur Unwirksamkeit der Einwilligung der Spender in die Organentnahme und zu deren Rechts­wid­rigkeit, sondern sind (erst) im Rahmen der Beweiswürdigung als starkes Indiz dafür heranzuziehen, dass eine Aufklärung durch die - insoweit beweisbelastete - Behand­lungsseite nicht oder jedenfalls nicht in hinreichender Weise stattgefunden hat.

Berechtigung für Klagebegehren ergibt sich aus festgestellten inhaltlichen Aufklä­rungs­mängeln

Die Berechtigung des jeweiligen Klagebegehrens jedenfalls dem Grunde nach folgt jedoch aus den festgestellten inhaltlichen Aufklä­rungs­mängeln. Nach den Feststellungen des Berufungs­ge­richts wurden die Kläger, deren eigene Nieren­funk­ti­o­nswerte sich bereits präoperativ im unteren Grenzbereich befanden, nicht ordnungsgemäß über die gesund­heit­lichen Folgen der Organentnahme für ihre Gesundheit aufgeklärt. Die Klägerin des Verfahrens VI ZR 495/16 hätte zudem über das erhöhte Risiko eines Trans­plan­tat­verlusts bei ihrem Vater aufgrund von dessen Vorerkrankung aufgeklärt werden müssen. Damit ist die von den Klägern erteilte Einwilligung in die Organentnahme unwirksam und der Eingriff jeweils rechtswidrig.

Einwand der hypothetischen Einwilligung im Trans­plan­ta­ti­o­ns­gesetz nicht geregelt

Für den von den Beklagten hiergegen erhobenen Einwand, die Kläger hätten auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Organentnahme eingewilligt, ist entgegen der Auffassung des Berufungs­ge­richts kein Raum. Der Einwand der hypothetischen Einwilligung ist im Trans­plan­ta­ti­o­ns­gesetz nicht geregelt. Angesichts des vom Gesetzgeber geschaffenen gesonderten Regelungs­regimes des Trans­plan­ta­ti­o­ns­ge­setzes lassen sich die zum Arzthaf­tungsrecht entwickelten Grundsätze der hypothetischen Einwilligung nicht auf die Lebend­or­gan­spende übertragen. Der Einwand ist auch nicht nach dem allgemeinen schaden­s­er­satz­recht­lichen Gedanken des rechtmäßigen Alter­na­tiv­ver­haltens beachtlich, weil dies dem Schutzzweck der erhöhten Aufklä­rungs­an­for­de­rungen bei Lebendspenden (§ 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 TPG) widerspräche.

Streng formulierte Aufklä­rungs­vorgaben dienen dem "Schutz des Spenders vor sich selbst"

Die vom Gesetzgeber bewusst streng formulierten und in § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG gesondert strafbewehrten Aufklä­rungs­vorgaben sollen den potentiellen Organspender davor schützen, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen; sie dienen dem "Schutz des Spenders vor sich selbst". Jedenfalls bei der Spende eines - wie hier einer Niere - nicht regene­rie­rungs­fähigen Organs, die nur für eine besonders nahestehende Person zulässig ist (§ 8 Abs. 1 Satz 2 TPG), befindet sich der Spender in einer besonderen Konflikt­si­tuation, in der jede Risiko­in­for­mation für ihn relevant sein kann. Die echte Freiwilligkeit der Spende ist zudem vorab durch eine Kommission zu verifizieren (§ 8 Abs. 3 TPG). Könnte die Behand­lungsseite vor diesem Hintergrund mit dem Einwand des rechtmäßigen Alter­na­tiv­ver­haltens eine Haftung abwenden, bliebe die rechtswidrige Organentnahme insoweit sanktionslos und würden die gesonderten Aufklä­rungs­an­for­de­rungen des Trans­plan­ta­ti­o­ns­ge­setzes unterlaufen. Dies erschütterte das notwendige Vertrauen potentieller Lebend­or­gan­spender in die Trans­plan­ta­ti­o­ns­medizin. Denn die Einhaltung der Vorgaben des Trans­plan­ta­ti­o­ns­ge­setzes ist unabdingbare Voraussetzung, wenn - um des Lebensschutzes willen - die Bereitschaft der Menschen zur Organspende langfristig gefördert werden soll.

Die maßgeblichen Vorschriften des Trans­plan­ta­ti­o­ns­ge­setzes in der Fassung von 2007 (TPG 2007) lauten:

Erläuterungen

Abschnitt 3. Entnahme von Organen und Geweben bei lebenden Spendern

§ 8 Entnahme von Organen und Geweben

(1) Die Entnahme von Organen oder Geweben zum Zwecke der Übertragung auf andere ist bei einer lebenden Person [...] nur zulässig, wenn

1. die Person [...]

b) nach Absatz 2 Satz 1 und 2 aufgeklärt worden ist und in die Entnahme eingewilligt hat,

c) nach ärztlicher Beurteilung als Spender geeignet ist und voraussichtlich nicht über das Opera­ti­o­ns­risiko hinaus gefährdet oder über die unmittelbaren Folgen der Entnahme hinaus gesundheitlich schwer beeinträchtigt wird,

2. die Übertragung des Organs oder Gewebes auf den vorgesehenen Empfänger nach ärztlicher Beurteilung geeignet ist, das Leben dieses Menschen zu erhalten oder bei ihm eine schwerwiegende Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Beschwerden zu lindern, [...]

Die Entnahme einer Niere, des Teils einer Leber oder anderer nicht regene­rie­rungs­fähiger Organe ist darüber hinaus nur zulässig zum Zwecke der Übertragung auf Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, eingetragene Lebenspartner, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen.

(2) Der Spender ist durch einen Arzt in verständlicher Form aufzuklären über [...]

3. die Maßnahmen, die dem Schutz des Spenders dienen, sowie den Umfang und mögliche, auch mittelbare Folgen und Spätfolgen der beabsichtigten Organ- oder Gewebeentnahme für seine Gesundheit,

[...]

5. die zu erwartende Erfolgsaussicht der Organ- oder Gewebe­über­tragung und sonstige Umstände, denen er erkennbar eine Bedeutung für die Spende beimisst [...],

Der Spender ist darüber zu informieren, dass seine Einwilligung Voraussetzung für die Organ- oder Gewebeentnahme ist. Die Aufklärung hat in Anwesenheit eines weiteren Arztes, für den § 5 Abs. 2 Satz 1 und 2 entsprechend gilt, und, soweit erforderlich, anderer sachver­ständiger Personen zu erfolgen. Der Inhalt der Aufklärung und die Einwil­li­gungs­er­klärung des Spenders sind in einer Niederschrift aufzuzeichnen, die von den aufklärenden Personen, dem weiteren Arzt und dem Spender zu unterschreiben ist. [...]

Abschnitt 2. Entnahme von Organen und Geweben bei toten Spendern

§ 5 Nachweis­ver­fahren

[...]

(2) Die an den Untersuchungen nach Absatz 1 beteiligten Ärzte dürfen weder an der Entnahme noch an der Übertragung der Organe oder Gewebe des Spenders beteiligt sein. Sie dürfen auch nicht Weisungen eines Arztes unterstehen, der an diesen Maßnahmen beteiligt ist. [...]

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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