21.11.2024
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Dokument-Nr. 14044

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Urteil04.07.2012BundesgerichtshofVI ZR 120/11
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2012, 2808Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2012, Seite: 2808
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Vorinstanzen:
  • Landgericht Karlsruhe, Urteil22.01.2010, 8 O 86/09
  • Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil23.03.2011, 7 U 46/10
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil04.07.2012

Verspätet zurück­ge­wiesenes Vertei­di­gungs­vor­bringen (Präklusion) verstößt gegen verfas­sungs­gemäßes Verbot einer "Überbe­schleu­nigung"Sachver­stän­di­gen­gut­achten in Arzthaf­tungs­sachen in der Regel erforderlich

Wenn das als verspätet zurückgewiesene Vertei­di­gungs­vor­bringen ein Sachver­stän­di­gen­gut­achten veranlasst hätte, liegt ein Verstoß gegen das verfas­sungs­mäßige Verbot einer "Überbe­schleu­nigung vor. Vertei­di­gungs­mittel sind in der Regel nicht "nach Ablauf einer hierfür gesetzten Frist" (§ 296 Abs. 1 ZPO) vorgebracht, wenn das Gericht nach Ablauf der gesetzten und verlängerten Klage­er­wi­de­rungsfrist dem Beklagten ohne Fristsetzung nochmals Gelegenheit zur Klageerwiderung gibt. Dies hat der Bundes­ge­richtshof entschieden.

Im zugrunde liegenden Fall wies das Landgericht Karlsruhe gemäß § 296 Abs. 1 ZPO den Vortrag der Beklagten in Rahmen eines Arzthaf­tungs­pro­zesses als verspätet zurück. Das Vorbringen hätte die Einholung eines Sachver­stän­di­gen­gut­achtens erforderlich gemacht. Nach Auffassung des Landgerichts habe die Beklagte die, dreimal verlängerte, Frist zur Klageerwiderung versäumt und den Einspruch gegen das Versäum­ni­s­urteil nicht fristgerecht begründet. Dagegen wendete sich die Beklagte mit der Revision.

Präklusion verstößt gegen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)

Nach Ansicht des Bundes­ge­richtshofes, rügt die Revision zu Recht, dass die auf die Versäumung der Einspruchsfrist gestützte Zurückweisung gegen das verfas­sungs­mäßige Verbot der "Überbe­schleu­nigung" verstößt, wonach ein verspätetes Vorbringen nicht ausgeschlossen werden darf, wenn offenkundig ist, dass dieselbe Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vortrag eingetreten wäre. Die Präklu­si­ons­vor­schriften haben im Blick auf Art. 103 Abs. 1 GG strengen Ausnah­me­cha­rakter. Der Bundes­ge­richtshof vertritt deshalb in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, dass es für die Feststellung einer Verzögerung des Rechtsstreits allein darauf ankommt, ob der Prozess bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei dessen Zurückweisung. Im vorliegenden Fall war jedoch ohne jeden Aufwand erkennbar, dass die Verspätung allein nicht kausal für eine Verzögerung war. Denn auch bei rechtzeitigem Vorbringen innerhalb der Einspruchsfrist wäre die durch den Beklag­ten­vortrag verursachte Verzögerung eingetreten. In diesen Fällen ist die Präklusion rechts­miss­bräuchlich, denn sie dient erkennbar nicht dem mit ihr verfolgten Zweck, nämlich die Abwehr pflichtwidriger Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen. Da aber allein dieser Zweck die Einschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör verfas­sungs­rechtlich rechtfertigt, liegt in einem solchen Rechtsmissbrauch ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

Erfordernis von Sachver­stän­di­gen­gut­achten in Arzthaf­tungs­pro­zessen

Das Gericht führte weiter aus, dass durch die Präklu­si­ons­vor­schriften nicht die prozessuale Nachlässigkeit einer Partei als solche sanktioniert werden soll. Auch soll die Anwendung dieser Vorschriften dem Gericht nicht die Mühe ersparen einer der Sache nach gebotenen sorgfältigen Sachver­halts­auf­klärung. Zu beachten ist, dass Arzthaf­tungsfälle in aller Regel nicht ohne sachverständige Beratung zu entscheiden sind. Aber gerade in Fällen, in denen ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müsste, stellt sich die Frage, ob dieselbe Verzögerung - offenkundig - nicht auch bei rechtzeitigem Vorbringen eingetreten wäre (vgl. BGH, Urt. v. 21.10.1986 - VI ZR 107/86 = BGHZ 98, 386).

Keine Zurückweisung aufgrund Versäumung der Klage­er­wi­de­rungsfrist

Eine Zurückweisung des Vorbringens im Sinne des § 296 Abs. 1 ZPO wegen einer Versäumung der Klager­wi­de­rungsfrist nach § 276 Abs. 1 Satz 2 ZPO kommt ebenfalls nicht in Betracht. Durch die dreimalige Fristverlängerung ohne Fristsetzung seitens des Landgerichtes sind die Voraussetzungen des § 296 Abs. 1 ZPO nicht erfüllt.

Quelle: Bundesgerichtshof, ra-online (vt/rb)

der Leitsatz

ZPO § 296 Abs. 1, § 340 Abs. 3 Satz 3

a) In Arzthaf­tungs­sachen kann ein Verstoß gegen das verfas­sungs­mäßige Verbot einer "Überbe­schleu­nigung" insbesondere dann vorliegen, wenn das als verspätet zurückgewiesene Vertei­di­gungs­vor­bringen ein - in der Regel schriftliches - Sachver­stän­di­gen­gut­achten veranlasst hätte, dieses Sachver­stän­di­gen­gut­achten aber in der Zeit zwischen dem Ende der Einspruchs­be­grün­dungsfrist und der darauf folgenden mündlichen Verhandlung ohnehin nicht hätte eingeholt werden können.

b) Vertei­di­gungs­mittel sind in der Regel nicht "nach Ablauf einer hierfür gesetzten Frist" (§ 296 Abs. 1 ZPO) vorgebracht, wenn das Gericht nach Ablauf der gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 ZPO gesetzten (und verlängerten) Klage­er­wi­de­rungsfrist dem Beklagten ohne Fristsetzung nochmals Gelegenheit zur Klageerwiderung gibt.

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