23.11.2024
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Bundesgerichtshof Urteil02.11.2006

BGH verneint Ersatzansprüche der Geschädigten des NATO-Angriffs auf die Brücke von Varvarin gegen die Bundesrepublik DeutschlandWeder humanitäres Völkerrecht noch deutsches Staats­haf­tungs­rechts bilden Grundlage für eine Entschädigung

Die im Frühjahr 1999 durch einen Nato-Luftangriff auf die serbische Kleinstadt Varvarin geschädigten Opfer haben keinen Anspruch auf finanzielle Entschädigung. Eine entsprechende Klage wies der der Bundes­ge­richtshof ab.

Aufgrund eines entsprechenden Beschlusses der Mitgliedstaaten der NATO führte diese ab dem 24. März 1999 mit dem erklärten Ziel, in dem damaligen Jugoslawien eine drohende humanitäre Katastrophe infolge des Kosovo-Konflikts zu verhindern, Luftoperationen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien durch. An diesen Operationen beteiligten sich mit Zustimmung des Deutschen Bundestages auch deutsche Luftstreit­kräfte. Am 30. Mai 1999 griffen Kampfflugzeuge der NATO die am Ortsausgang der serbischen Kleinstadt Varvarin etwa 180 km südöstlich von Belgrad - über den Fluss Morava führende Brücke mit Raketen an und zerstörten sie. Hierbei wurden zehn Menschen getötet und 30 verletzt, davon 17 schwer; bei sämtlichen Opfern handelt es sich um Zivilpersonen. Kampfflugzeuge der Bundesrepublik Deutschland waren an dem Beschuss der Brücke nicht unmittelbar beteiligt. Ob und inwieweit die deutschen Luftstreit­kräfte Unter­stüt­zungs­leis­tungen erbracht haben, ist streitig, ebenso, in welcher Form deutsche Dienststellen an der voraus­ge­gangenen Auswahl der Ziele der Luftangriffe beteiligt waren.

Die insgesamt 35, teilweise in Erben­ge­mein­schaften verbundenen - Kläger, Staats­an­ge­hörige des früheren Jugoslawiens, haben die beklagte Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz in zweiter Instanz begrenzt auf billige Entschädigung in Geld für immaterielle Schäden (Schmerzensgeld) - wegen der Tötung von Angehörigen und eigener erlittener Verletzungen in Anspruch genommen. Sie haben geltend gemacht, die Beklagte hafte für die Folgen des von NATO-Streitkräften durchgeführten Angriffs auf die Brücke aufgrund der Verletzung humanitären Völkerrechts und auch nach den Grundsätzen des deutschen Amtshaf­tungs­rechts. Sie haben der Beklagten vorgeworfen, im Rahmen der NATO das ihr mögliche Vetorecht gegen die Auswahl der Brücke von Varvarin als militärisches Ziel nicht ausgeübt und zudem den Angriff selbst durch grundsätzliche Zusage und Übernahme von Aufklärung, Begleitschutz und Luftraumschutz unterstützt zu haben.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und das Oberlandesgericht die hiergegen gerichtete Berufung der Kläger zurückgewiesen. Dieses Urteil haben die Kläger mit ihrer vom Oberlan­des­gericht zugelassenen - Revision angegriffen.

Der unter anderem für das Amtshaf­tungsrecht zuständige III. Zivilsenat des Bundes­ge­richtshofs hat die Revision der Kläger zurückgewiesen.

Ein Schaden­s­er­satz­an­spruch der Kläger gegen die Bundesrepublik Deutschland auf einer völker­recht­lichen Grundlage scheidet schon deshalb aus, weil im Falle von Verletzungen des Kriegs­völ­ker­rechts etwaige völker­rechtliche Wieder­gut­ma­chungs­ansprüche gegen den verant­wort­lichen fremden Staat nicht einzelnen geschädigten Personen, sondern nur deren Heimatstaat zustehen. Diese völker­rechtliche Lage, von der der Bundes­ge­richtshof für die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bereits in einem früheren Urteil (Distomo-Entscheidung) ausgegangen ist, besteht auch heute noch insbesondere im Hinblick auf Art. 91 des ersten Zusatz­pro­tokolls vom 8. Juni 1977 zu dem Genfer Abkommen vom 12. August 1949 - weiter. Mangels einer völker­recht­lichen Anspruchs­be­rech­tigung der Kläger stellt sich auch nicht die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine (Mit)Verant­wort­lichkeit der Bundesrepublik Deutschland für ein etwaiges völker­recht­liches Delikt, unabhängig von unerlaubten Handlungen oder Unterlassungen der eigenen Bediensteten, schon allein aus der Beteiligung an der NATO-Operation im Kosovo-Konflikt in Betracht kommt.

Auch einen Schaden­s­er­satz­an­spruch der Kläger gegen die Beklagte aus nationalem (deutschem) Recht hat der Bundes­ge­richtshof verneint. Als Anspruchs­grundlage für einen solchen Anspruch kommt allein das Institut der Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) in Betracht. In der Distomo-Entscheidung hatte der Bundes­ge­richtshof ausgesprochen, dass nach dem Verständnis des Amtshaf­tungs­rechts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs militärische Kriegs­hand­lungen im Ausland vom Amtshaf­tung­s­tat­bestand ausgenommen waren. Ob hieran auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes festzuhalten ist, hat der Bundes­ge­richtshof in dem vorliegenden Urteil offen gelassen.

Ein hierauf gestützter Schaden­s­er­satz­an­spruch der Kläger gegen die Bundesrepublik Deutschland scheitert im Streitfall jedenfalls daran, dass im Zusammenhang mit dem Angriff gegen die Brücke von Varvarin keine Amtspflicht­ver­let­zungen deutscher Soldaten oder Dienststellen im Sinne konkreter (schuldhafter) Verstöße gegen Regeln des humanitären (Kriegs-)Völkerrechts zum Schutz der Zivil­be­völ­kerung - vorliegen. Da die deutschen Luftstreit­kräfte an dem Kampfeinsatz gegen die Brücke von Varvarin nicht unmittelbar beteiligt waren, könnten ihnen etwaige Völker­rechts­verstöße bei diesem Kampfeinsatz selbst wenn er in objektiver Hinsicht Unterstützung durch von deutscher Seite gewährten Luftraumschutz gefunden haben sollte - allenfalls dann unter dem Gesichtspunkt einer Amtspflicht­ver­letzung zugerechnet werden, wenn die deutschen Dienststellen über das konkrete Angriffsziel und Einzelheiten des betreffenden Luftangriffs informiert gewesen wären. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Dass die deutschen Dienststellen hierüber keine Informationen hatten, kann ihnen ausgehend von dem nach dem unwiderlegten Vortrag der Beklagte bei der gesamten NATO-Operation praktizierten Grundsatz "need to know" nicht vorgeworfen werden; danach verfügten die beteiligten Mitglieds­s­taaten nur über diejenigen Informationen, die sie für ihre eigene Beteiligung an der jeweiligen konkreten Operation benötigten.

Eine Pflicht­ver­letzung deutscher Dienststellen liegt auch nicht darin, dass diese – legt man den Vortrag der Kläger zugrunde - vorher daran mitgewirkt haben, dass die Brücke von Varvarin in eine Zielliste der Luftoperationen der NATO aufgenommen worden war. Der Bundes­ge­richtshof ist dem Berufungs­gericht darin beigetreten, dass den militärischen Dienststellen bei ihren Entscheidungen für eine militärische Operation oder im Rahmen derselben ein umfangreicher, gerichtlich nicht nachprüfbarer, Beurtei­lungs­spielraum zusteht. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungs­gericht diesen Beurtei­lungs­spielraum erst bei völliger Unver­tret­barkeit oder eindeutiger Völker­rechts­wid­rigkeit der betreffenden militärischen Entscheidung als überschritten ansieht. Das Berufungs­gericht hat in rechts­feh­ler­freier tatrich­ter­licher Würdigung angenommen, dass diese Schwelle im Zusammenhang mit der von den Klägern behaupteten - Billigung der Aufnahme der Brücke von Varvarin in die Zielliste der NATO-Operationen durch die Beklagte nicht überschritten worden ist. Diese tatrichterliche Würdigung lag schon deshalb nahe, weil zu den militärischen Zielen traditionell unter anderem die Infrastruktur wie Straßen, Eisenbahnen, Brücken, Fernmel­de­ein­rich­tungen gezählt wird. Das konnte für eine Aufnahme in die Zielliste ausreichen, selbst wenn die Entscheidung zu einem militärischen Angriff letztlich nur unter der Voraussetzung hätte erfolgen dürfen, dass die Zerstörung der Brücke (zu diesem Zeitpunkt) einen eindeutigen militärischen Vorteil mit sich brachte. Rechts­feh­lerfrei hat das Berufungs­gericht ausgeführt, die Beklagte habe bei ihrer Zustimmung zur Zielauswahl darauf vertrauen dürfen, dass ein etwaiger Angriff unter Beachtung des Völkerrechts erfolgen werde.

Vorinstanzen:

OLG Köln, Urteil vom 28. Juli 2005 - 7 U 8/04 -

LG Bonn, Urteil vom 10. Dezember 2003 - 1 O 361/02 -

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 151/2006 des BGH vom 02.11.2006

der Leitsatz

HLKO Art. 3; Genfer Abkommen 1. Zusatzprot. Art. 91

Im Falle von Verletzungen des Kriegs­völ­ker­rechts stehen auch heute noch etwaige völker­rechtliche Schaden­s­er­satz­ansprüche gegen den verant­wort­lichen fremden Staat nicht einzelnen geschädigten Personen, sondern nur deren Heimatstaat zu (Ergänzung zu BGHZ 155, 279).

GG Art. 34; BGB § 839 Fk

a) Völker­rechts­verstöße bei einem Kampfeinsatz der NATO, an dem deutsche Streitkräfte nicht unmittelbar, sondern nur durch unterstützende Maßnahmen beteiligt waren, können der Bundesrepublik Deutschland allenfalls dann unter dem Gesichtspunkt einer Amtspflicht­ver­letzung zugerechnet werden, wenn die deutschen Dienststellen über Einzelheiten des konkreten Einsatzes unterrichtet waren. Ob auf militärische Handlungen von Bundes­wehr­soldaten im Ausland der Amtshaf­tung­s­tat­bestand des § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG überhaupt anwendbar ist, bleibt offen.

b) Zum Beurtei­lungs­spielraum militärischer Dienststellen bei ihren Entscheidungen (hier: Mitwirkung bei der Festlegung der Ziele einer NATO-Operation).

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