In diesem letzten Verfahren musste sich der Bundesgerichtshof mit der Zulässigkeit sog. „unwahrer Protokollrügen“ befassen. Damit wird die Verfahrensrüge eines Verteidigers bezeichnet, der wider besseres Wissen einen Verfahrensverstoß behauptet und sich dabei ein Versehen bei der Fassung des Hauptverhandlungsprotokolls zunutze macht.
Im Fall des Angeklagten G. war behauptet worden, seine Verteidigerin sei während der Vernehmung eines Zeugen nicht im Sitzungssaal gewesen. Dies werde durch das Protokoll bewiesen. Darin war versehentlich der Weggang der Verteidigerin verzeichnet. Die Nachprüfung hat ohne jeden Zweifel ergeben, dass diese tatsächlich anwesend war und sogar zahlreiche Fragen an den Zeugen gestellt hatte. Dies war auch der Revisionsverteidigerin bekannt, wie die Hauptverhandlung vor dem Bundesgerichtshof ergeben hat.
Eine solche bewusst unwahre Verfahrensrüge wird in der Fachliteratur und insbesondere in Kreisen der Strafverteidiger für zulässig erachtet; teilweise wird sogar ein „Recht oder gar die Pflicht zur Lüge“ aus der Beweiskraft des Protokolls abgeleitet. Hierzu wird in einem Handbuch für Strafverteidiger empfohlen, zur Umgehung „taktloser“ Fragen von Revisionsrichtern nach der Wahrheit einen anderen Verteidiger nur für das Revisionsverfahren zu beauftragen, der im „Zustand der Unberührtheit gehalten werden könne.“
Der Bundesgerichtshof ist dieser Praxis entgegengetreten. Er hat die wahrheitswidrige Behauptung eines Verfahrensfehlers unter Berufung auf das insoweit fehlerhafte Protokoll dann als rechtsmissbräuchlich missbilligt, wenn der Beschwerdeführer sicher weiß, dass sich der Fehler unzweifelhaft nicht ereignet hat.
Bei einem Erfolg der Rüge hätte das nach etwa drei Jahren Hauptverhandlung ergangene Urteil des Kammergerichts gegen diesen Angeklagten aufgehoben und die Verhandlung wiederholt werden müssen, obwohl das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden war.
Erläuterungen
Vorinstanz: Kammergericht in Berlin – Urteil vom 18. März 2004 - 2 StE 11/00-2
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 11.08.2006
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 115/06 des BGH vom 11.08.2006