21.11.2024
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Dokument-Nr. 28559

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Urteil18.03.2020Bundesarbeitsgericht5 AZR 36/19
Vorinstanz:
  • Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil14.12.2018, 10 sa 96/18
ergänzende Informationen

Bundesarbeitsgericht Urteil18.03.2020

Verkürzung von vergütungs­pflichtigen Fahrtzeiten für Außendienst­mitarbeiter unzulässigBetriebs­vereinbarung darf Tarifvertrag nicht unterlaufen

Regelungen in einer Betriebs­vereinbarung, welche die vergütungs­pflichtigen Fahrtzeiten eines Außendienst­mitarbeiters verkürzen, sind wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam, wenn die betreffenden Zeiten nach den Bestimmungen des einschlägigen Tarifvertrags uneingeschränkt der entgelt­pflichtigen Arbeitszeit zuzurechnen und mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten sind. Das hat das Bundes­arbeits­gericht entschieden.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger ist bei der Beklagten als Service­techniker im Außendienst tätig. Die Beklagte ist aufgrund Mitgliedschaft im vertrag­s­chlie­ßenden Arbeit­ge­ber­verband an die Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen gebunden. Kraft dynamischer Bezugnahme im Arbeitsvertrag finden diese Tarifverträge auf das Arbeits­ver­hältnis Anwendung.

Eingeschränkte Anerkennung der Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden als Arbeitszeit durch Betrie­bs­ver­ein­barung

In einer Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2001 (BV) ist zu § 8 geregelt, dass Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden nicht zur Arbeitszeit zählen, wenn sie 20 Minuten nicht überschreiten. Sofern An- und Abreise länger als jeweils 20 Minuten dauern, zählt die 20 Minuten übersteigende Fahrtzeit zur Arbeitszeit. In das für den Kläger geführte Arbeits­zeitkonto hat die Beklagte Reisezeiten von dessen Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden nach Hause bis zu einer Dauer von jeweils 20 Minuten nicht als Zeiten geleisteter Arbeit eingestellt. Sie leistete hierfür auch keine Vergütung.

LAG wies Klage ab

Mit seiner Klage hat der Kläger verlangt, seinem Arbeits­zeitkonto Fahrtzeiten für März bis August 2017 im Umfang von 68 Stunden und 40 Minuten gutzuschreiben, hilfsweise an ihn 1.219,58 Euro brutto nebst Zinsen zu zahlen. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, ein solcher Anspruch sei durch § 8 BV wirksam ausgeschlossen. Arbeitsgericht und Landes­a­r­beits­gericht haben die Klage abgewiesen.

Kein Ausschluss des Vergü­tungs­an­spruchs nach Erfüllung der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung

Die Revision des Klägers hatte vor dem Bundes­a­r­beits­gericht Erfolg. Mit den Fahrten von seiner Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück erfüllt der Kläger seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung. Ein daraus resultierender Vergü­tungs­an­spruch wird durch § 8 BV nicht ausgeschlossen. Die Bestimmung regelt die Vergütung der Arbeitszeit, indem sie die An- und Abfahrtszeiten zum ersten bzw. vom letzten Kunden - soweit sie 20 Minuten nicht übersteigen - von der Vergü­tungs­pflicht ausschließt. § 8 BV betrifft damit entgegen der Auffassung des Landes­a­r­beits­ge­richts einen tariflich geregelten Gegenstand.

Kein Mitbe­stim­mungsrecht des Betriebsrats

Nach dem einschlägigen Mantel­ta­rif­vertrag (MTV) sind sämtliche Tätigkeiten, die ein Arbeitnehmer in Erfüllung seiner vertraglichen Haupt­leis­tungs­pflicht erbringt, mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten. Dazu gehört bei Außen­dienst­mi­t­a­r­beitern die gesamte für An- und Abfahrten zum Kunden aufgewendete Fahrtzeit. Da der MTV keine Öffnungsklausel zugunsten abweichender Betrie­bs­ver­ein­ba­rungen enthält, ist § 8 BV wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam. Arbeitsentgelte, die durch Tarifvertrag geregelt sind, können nicht Gegenstand einer Betrie­bs­ver­ein­barung sein. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ist nicht wegen des Eingreifens eines Mitbe­stim­mungs­rechts aus § 87 Abs. 1 BetrVG aufgehoben. Auf Grund der Bindung der Beklagten an die fachlich einschlägigen Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen, welche die Vergütung für geleistete Arbeit auch in Bezug auf Fahrtzeiten der Außen­dienst­mi­t­a­r­beiter abschließend regeln, besteht insoweit schon nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG kein Mitbe­stim­mungsrecht des Betriebsrats.

Kläger hat Anspruch auf Gutschrift der umstrittenen Fahrzeiten

Der Kläger kann somit von der Beklagten die Gutschrift der umstrittenen Fahrtzeiten verlangen, soweit unter ihrer Berück­sich­tigung die vertraglich geschuldete regelmäßige Arbeitszeit überschritten wurde. Ob dies der Fall ist, konnte der Senat mangels hinreichender Feststellungen des Landes­a­r­beits­ge­richts nicht abschließend entscheiden. Die Sache ist deshalb unter Aufhebung des Berufungs­urteils zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landes­a­r­beits­gericht zurückverwiesen worden. Die vom Berufungs­gericht erörterte Frage der Betrie­bs­ver­ein­ba­rungs­of­fenheit der arbeits­ver­trag­lichen Vereinbarung stellt sich nicht, da die Betrie­b­s­parteien mit der Regelung zur Vergütung der Fahrtzeiten in der BV die Binnenschranken der Betrie­bs­ver­fassung nicht beachtet haben und die BV aus diesem Grunde insoweit unwirksam ist.

Quelle: Bundesarbeitsgericht, ra-online (pm/ab)

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