18.10.2024
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Dokument-Nr. 3320

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Urteil09.11.2006Bundesarbeitsgericht2 AZR 812/05
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NZA 2007, 549Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA), Jahrgang: 2007, Seite: 549
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Vorinstanz:
  • Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil28.07.2005, 6 Sa 893/04
ergänzende Informationen

Bundesarbeitsgericht Urteil09.11.2006

Bundes­a­r­beits­gericht ändert Rechtsprechung zur fehlerhaften Sozialauswahl bei betrie­bs­be­dingter KündigungDomino-Theorie wird aufgegeben

Wenn bei einer betrie­bs­be­dingten Kündigung, die zu kündigenden Arbeitnehmer per Punktesystem ermittelt werden und hierbei ein Fehler unterläuft, dann waren bisher die Kündigungen aller gekündigten Arbeitnehmer unwirksam (so genannter Domino-Theorie). Diese Rechtsprechung hat das Bundes­a­r­beits­gericht nun aufgegeben. Wenn der Arbeitnehmer in Fällen der vorliegenden Art in einem Kündi­gungs­schutz­prozess aufzeigen kann, dass der gekündigte Arbeitnehmer auch bei richtiger Erstellung der Rangliste anhand des Punktesystems zur Kündigung angestanden hätte, so ist die Kündigung - entgegen der bisherigen Rechtsprechung - nicht mehr wegen fehlerhafter Sozialauswahl unwirksam.

Kündigt der Arbeitgeber aus betrieblichen Gründen nicht allen Arbeitnehmern, sondern nur einem Teil der Belegschaft, so muss er eine Auswahl treffen. Bei der Auswahl unter vergleichbaren Arbeitnehmern muss er nach dem Gesetz soziale Gesichtspunkte, nämlich Dauer der Betrie­bs­zu­ge­hö­rigkeit, Lebensalter, Unter­halts­pflichten und eine etwaige Schwer­be­hin­derung ausreichend berücksichtigen (§ 1 Abs. 3 KSchG). Dabei kann der Arbeitgeber zur Objektivierung und besseren Durch­schau­barkeit seiner Auswah­l­ent­scheidung die sozialen Gesichtspunkte mit einem Punktesystem bewerten, sodann anhand der von den einzelnen Arbeitnehmern jeweils erreichten Punktzahlen eine Rangfolge der zur Kündigung anstehenden Arbeitnehmer erstellen und die zu kündigenden Arbeitnehmer nach dieser Rangfolge bestimmen. Entfallen zB 50 von 500 Arbeitsplätzen, so sind bei Anwendung eines solchen Punktesystems grundsätzlich die 50 Arbeitnehmer mit den geringsten Punktzahlen zu kündigen. Unterläuft bei der Ermittlung der Punktzahlen ein Fehler mit der Folge, dass auch nur einem Arbeitnehmer, der bei richtiger Ermittlung der Punktzahlen zur Kündigung angestanden hätte, nicht gekündigt wird, so wurden nach der bisherigen Rechtsprechung die Kündigungen aller gekündigten Arbeitnehmer als unwirksam angesehen. Dies galt, obwohl bei fehlerfreier Erstellung der Rangfolge nur ein Arbeitnehmer von der Kündigungsliste zu nehmen gewesen wäre (sog. Domino-Theorie).

Diese Rechtsprechung hat das Bundes­a­r­beits­gericht aufgegeben. Kann der Arbeitgeber in Fällen der vorliegenden Art im Kündi­gungs­schutz­prozess aufzeigen, dass der gekündigte Arbeitnehmer auch bei richtiger Erstellung der Rangliste anhand des Punktesystems zur Kündigung angestanden hätte, so ist die Kündigung - entgegen der bisherigen Rechtsprechung - nicht wegen fehlerhafter Sozialauswahl unwirksam. In diesen Fällen ist der Fehler für die Auswahl des gekündigten Arbeitnehmers nicht ursächlich geworden und die Sozialauswahl jedenfalls im Ergebnis ausreichend.

In den zugrunde liegenden Fällen hatte der Arbeitgeber auf Grund rückläufiger Aufträge einen Beschäf­ti­gungs­überhang von 55 Arbeitnehmern (von weit über 500) im gewerblichen Bereich. Er erstellte anhand eines Punktesystems eine Rangfolge. Die 55 Arbeitnehmer mit den niedrigsten Punktzahlen wählte der Arbeitgeber zur Kündigung aus. Darunter befanden sich alle sechs Kläger. Sie machten mit ihren Kündi­gungs­schutz­klagen geltend, der Arbeitgeber habe einem bestimmten Arbeitnehmer 5 Punkte zuviel zugemessen. Ziehe man dem betreffenden Arbeitnehmer diese 5 Punkte ab, so „rutsche“ er auf die Liste der 55 zu kündigenden Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber entgegnete, selbst wenn das richtig wäre und dem betreffenden Arbeitnehmer an sich zu kündigen gewesen wäre, so könne davon doch nur derjenige Arbeitnehmer profitieren, der bei richtiger Berechnung der Punktzahl ungekündigt geblieben wäre, also der bisher auf Platz 55 der Rangliste gesetzte Arbeitnehmer. Das sei bei keinem der sechs Kläger der Fall. Sie blieben auf Grund ihrer Punktzahlen auch dann unter den 55 Arbeitnehmern mit den geringsten Sozialpunkten, wenn dem von ihnen benannten und fälschlich mit zuviel Punkten bedachten Arbeitnehmer gekündigt worden wäre. Das Landes­a­r­beits­gericht als Vorinstanz hatte - in Anwendung der bisherigen Rechtsprechung - alle sechs Kündigungen wegen fehlerhafter Sozialauswahl für unwirksam erklärt. Der Zweite Senat hat die Urteile des Landes­a­r­beits­ge­richts aufgehoben und die Rechtss­trei­tig­keiten zur Aufklärung noch strittiger Punkte an das Landes­a­r­beits­gericht zurückverwiesen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 68/06 des BAG vom 09.11.2006

der Leitsatz

1. Nimmt der Arbeitgeber die Sozialauswahl allein durch Vollzug eines zulässigen Punktesystems vor, so kann er auf die Rüge nicht ordnungsgemäßer Sozialauswahl mit Erfolg einwenden, der gerügte Auswahlfehler habe sich auf die Kündi­gungs­ent­scheidung nicht ausgewirkt, weil der Arbeitnehmer nach der Punktetabelle auch bei Vorliegen des Auswahlfehlers zur Kündigung angestanden hätte (Aufgabe der bisherigen gegenteiligen Rechtsprechung, vgl. BAG 18. Oktober 1984 - 2 AZR 543/83 - BAGE 47, 80; 18. Januar 1990 - 2 AZR 357/89 - BAGE 64, 34).

2. Ein Punktesystem zur Gewichtung der Sozialdaten muss nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG in der seit dem 1. Januar 2004 geltenden Fassung keine individuelle Abschluss­prüfung vorsehen.

3. Die ordnungsgemäße Durchführung des nach § 95 Abs. 1 BetrVG für das Punktesystem erforderlichen Mitbe­stim­mungs­ver­fahrens ist nicht Wirksam­keits­vor­aus­setzung einer Kündigung, die unter Anwendung des Systems erfolgt ist.

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