18.10.2024
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Dokument-Nr. 12786

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Urteil14.07.2010Verfassungsgerichtshof BerlinVerfGH 57/08
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Verfassungsgerichtshof Berlin Urteil14.07.2010

Klage gegen die Ablehnung von Einsicht in die Senatsakten zur Teilpri­va­ti­sierung der Berliner Wasserbetriebe erfolgreich

Der Verfas­sungs­ge­richtshof des Landes Berlin hat der Klage der Abgeordneten Kosche gegen die Ablehnung von Einsicht in die Senatsakten zur Teilpri­va­ti­sierung der Berliner Wasserbetriebe im Wesentlichen stattgegeben und die Rechts­wid­rigkeit der eine Akteneinsicht ablehnenden Entscheidungen des Senators für Finanzen festgestellt.

Der Verfas­sungs­ge­richtshof hat in dieser Entscheidung erstmals über das Akten­ein­sichtsrecht der Mitglieder des Abgeord­ne­ten­hauses von Berlin nach Art. 45 Abs. 2 der Verfassung von Berlin - VvB - (eingeführt durch das Achte Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin vom 25. Mai 2006) entschieden. Art. 45 Abs. 2 VvB hat folgenden Wortlaut:

"Jeder Abgeordnete hat das Recht, Einsicht in Akten und sonstige amtliche Unterlagen der Verwaltung zu nehmen. Die Einsichtnahme darf abgelehnt werden, soweit überwiegende öffentliche Interessen einschließlich des Kernbereichs exekutiver Eigen­ver­ant­wortung oder überwiegende private Interessen an der Geheimhaltung dies zwingend erfordern. Die Entscheidung ist dem Abgeordneten schriftlich mitzuteilen und zu begründen. Das Einsichtsrecht in Akten oder sonstige amtliche Unterlagen der Verfas­sungs­schutz­behörde bleibt den Mitgliedern der für die Kontrolle der Verfas­sungs­schutz­behörde zuständigen Gremien nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften vorbehalten."

Die Antragstellerin wandte sich (im Wege der sog. Organklage) als Mitglied des Abgeord­ne­ten­hauses von Berlin gegen die teilweise Ablehnung ihres Antrags auf Akteneinsicht durch den Senat. Sie begehrte im Juni 2007 gestützt auf Art. 45 Abs. 2 VvB Einsicht in sämtliche bei den jeweiligen Senats­ver­wal­tungen vorhandenen Akten und Archivakten zur Veräußerung der Berliner Wasserbetriebe. Insbesondere verlangte sie Einsicht in den Kaufvertrag (sog. Konsor­ti­a­l­vertrag) zwischen dem Land Berlin und den Erwerbern der Berliner Wasserbetriebe (RWE und Veolia - ehemals Vivendi -) einschließlich aller Nebenverträge. Sämtliche angeforderten Unterlagen umfassen etwa 180 Aktenordner (ca. 90.000 Blatt).

Die Antragstellerin erhielt zunächst Einsicht in den Konsor­ti­a­l­vertrag, allerdings nur „unter den vertraulichen Bedingungen des Datenraums des Abgeord­ne­ten­hauses“. Dem Einsichtsantrag gab die Senats­ver­waltung für Finanzen im Februar und Juni 2008 nach Auswertung der Unterlagen nur teilweise statt und lehnte ihn im Übrigen ab. Sie begründete die teilweise Ablehnung - im Einzelnen unterschiedlich für bestimmte Aktenteile - damit, dass das Einsichts­in­teresse der Antragstellerin als parla­men­ta­risches Kontrollrecht zwar einen hohen Rang habe, aber hinter höherrangigen Interessen des Landes und der privaten Unternehmen zurücktreten müsse. So seien die grundrechtlich geschützten Geheim­hal­tungs­be­langen der Unternehmen RWE und Veolia vorrangig zu beachten. Die Einsicht sei auch ausgeschlossen in Akten, die den Kernbereich exekutiver Eigen­ver­ant­wortung beträfen, und in solche Unterlagen, die im Interesse des Landes Berlin geheim­hal­tungs­be­dürftig seien und den Kontroll­in­teressen der Abgeordneten vorgingen. Die Verhand­lungs­po­sition des Senats in Priva­ti­sie­rungs­ver­fahren würde geschwächt, wenn infolge der Einsichtnahme Einzelheiten über Zugeständnisse an die Vertragspartner bei der Privatisierung der Wasserbetriebe bekannt würden.

Die Antragstellerin machte geltend, dass die Entscheidungen der Senats­ver­waltung für Finanzen die durch Art. 45 Abs. 2 VvB gezogenen Grenzen verkennen. Die Einsichts­ver­wei­gerung sei nicht ausreichend begründet und missachte die für das neu geschaffene Einsichtsrecht gültigen verfas­sungs­recht­lichen Maßstäbe. Der Senator für Finanzen (Antragsgegner) ist dem mit eingehenden Rechts­aus­füh­rungen entge­gen­ge­treten.

Für das Urteil des Verfas­sungs­ge­richtshofs sind im Wesentlichen folgende Erwägungen maßgeblich:

Art. 45 Abs. 2 Satz 2 VvB verlangt, alle für und gegen die Gewährung von Akteneinsicht sprechenden Belange vollständig und zutreffend zu ermitteln, zu gewichten und gegeneinander abzuwägen. Die nach Art. 45 Abs. 2 Satz 3 VvB vorgeschriebene Pflicht zur Begründung muss sich auf alle danach für den Einzelfall wesentlichen Gesichtspunkte erstrecken. Sie soll dem Abgeordneten und dem Verfas­sungs­ge­richtshof eine sachgerechte Überprüfung der einen Antrag auf Akteneinsicht ablehnenden Entscheidung ermöglichen. Dabei ist es nicht Aufgabe des Senats von Berlin, das Einsichts­in­teresse der Abgeordneten politisch zu bewerten. Der Antrag darf nach dem Wortlaut der Verfassung von Berlin nur abgelehnt werden, wenn „überwiegende“ öffentliche Interessen oder private Interessen Dritter die Ablehnung der Einsichtnahme „zwingend erfordern“. Das ist auch bei einem vorrangigen öffentlichen oder privaten Geheim­hal­tungs­in­teresse dann nicht der Fall, wenn die Einsichtnahme - statt sie ganz oder zum Teil abzulehnen - in hinreichender Weise bestimmten Vorkehrungen parla­men­ta­rischer Geheimhaltung unterstellt werden kann.

Schon diesen Begrün­dungs­an­for­de­rungen entsprechen die angegriffenen Ableh­nungs­be­scheide des Antragsgegners (Senator für Finanzen) nicht. Der Senator für Finanzen hat weder die der Einsichtnahme entge­gen­ste­henden Interessen einzel­fa­ll­bezogen plausibel aufgezeigt noch die gebotene konkrete Begründung dafür gegeben, wie die wider­strei­tenden Belange gegeneinander abzuwägen sind. Auch wenn angesichts des Umfangs des Aktenmaterials eine seiten- oder gar absatz- und zeilenbezogene Abwägung unzumutbar sein sollte, wäre der Antragsgegner zu einer konkret auf einzelne Unterlagen und Akten­be­standteile bezogenen Abwägungs­ent­scheidung verpflichtet gewesen. Zumindest hätte eine typisierende und zugleich konkret nachvoll­ziehbare Kategorisierung der Unterlagen erfolgen müssen, um eine hieran anknüpfende Abwägung der wider­strei­tenden Interessen zu ermöglichen und nachvollziehbar zu machen.

Fehlerhaft war auch die Gewichtung und Abwägung der Einsichts- und Geheim­hal­tungs­in­teressen. Dies schon deshalb, weil sie nicht zu einzelnen Unterlagen erfolgt ist, sondern gleichsam vor die Klammer gezogen wurde und damit zwangsläufig abstrakt und pauschal geblieben ist. Außerdem hat sich der Verfas­sungs­ge­richtshof zu der Abrede in dem besonders umstrittenen Konsor­ti­a­l­vertrag, über Vertragsinhalt und Vertrags­ver­hand­lungen absolutes Stillschweigen zu bewahren, geäußert: Es ist zwar verfas­sungs­rechtlich unbedenklich, die Verlässlichkeit von Geheim­hal­tungs­zusagen zugunsten der Vertragspartner als schutzwürdiges Geheim­hal­tungs­in­teresse anzusehen. Hier bestand jedoch nach dem Vertragsinhalt eine Geheim­hal­tungs­pflicht nur, soweit keine gesetzliche Pflicht zur Offenlegung bestand. Das Akten­ein­sichtsrecht für Abgeordnete nach Art. 45 Abs. 2 VvB begründete eine solche gesetzliche Pflicht, durch die die Vertrau­lich­keits­abrede gegenstandslos geworden ist.

Ausdrücklich offen gelassen hat der Verfas­sungs­ge­richtshof, ob die Arbeits­fä­higkeit der Verwaltung einem besonders umfangreichen Einsichts­be­gehren unter dem Gesichtspunkt der verfas­sungs­rechtlich gebotenen Rücksichtnahme der Verfas­sungs­organe untereinander entge­gen­ge­halten werden kann. Der insoweit allein auf die große Seitenzahl der betroffenen Unterlagen bezogene und erstmals im Verfahren vor dem Verfas­sungs­ge­richtshof angeführte Einwand sei zu allgemein gefasst, um den hohen Anforderungen zu genügen, die es - wenn überhaupt - ausnahmsweise rechtfertigen könnten, den Anspruch auf Akteneinsicht allein aus Gründen unvertretbaren Verwal­tungs­aufwands einzuschränken.

Quelle: ra-online, Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin

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