Dokument-Nr. 1316
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Verfassungsgerichtshof Berlin Urteil22.11.2005
Unterlassen der Finanzplanung für die Jahre 2004 bis 2008 ist verfassungswidrig
Es war verfassungswidrig, dass es der Senat im Jahre 2004 unterließ, dem Abgeordnetenhaus von Berlin eine Finanzplanung für die Jahre 2004 bis 2008 vorzulegen. Dass dem Parlament im Jahre 2004 kein Entwurf eines Haushaltsgesetzes für das Jahr 2005 vorzulegen war, weil das Abgeordnetenhaus für die Jahre 2004 und 2005 bereits einen Doppelhaushalt verabschiedet hatte, ist unerheblich.
Art. 86 Abs. 3 Satz 2 der Verfassung von Berlin - VvB -, wonach der Finanzplan dem Abgeordnetenhaus spätestens im Zusammenhang mit dem Entwurf des Haushaltsgesetzes für das nächste Haushaltsjahr vorzulegen ist, verpflichtet den Senat von Berlin, dem Abgeordnetenhaus in jedem Haushaltsjahr einen der Entwicklung angepassten und fortgeführten Finanzplan vorzulegen.
Die Pflicht zur jährlichen Vorlage besteht auch dann, wenn es wegen eines für das laufende und das nächste Haushaltjahr aufgestellten und verabschiedeten Doppelhaushalts im laufenden Haushaltsjahr nicht der Vorlage des Entwurfs eines Haushaltsgesetzes für das nächste Haushaltsjahr bedarf. Mit dieser Begründung gab der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin in einem Organstreitverfahren den Oppositionsfraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus Recht, die das Unterlassen des Senats gerügt und für die Zukunft die Wiederholung eines solchen Verhaltens befürchtet hatten. Die Anträge dreier Abgeordneter wies der Verfassungsgerichtshof dagegen mit der Begründung zurück, dass die Verfassung von Berlin dem einzelnen Abgeordneten nicht das Recht verleihe, von dem Senat die Vorlage einer mittelfristigen Finanzplanung zu fordern. Die Verfassung von Berlin verleihe lediglich dem Parlament einen Anspruch auf Vorlage des Finanzplans gegen den Senat, welcher auch durch die Fraktionen vor dem Verfassungsgerichtshof geltend gemacht werden könne.
Der Verfassungsgerichtshof verwies darauf, dass Art. 86 Abs. 3 Satz 2 VvB eine bereits nach dem Haushaltsgrundsätzegesetz und dem Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft bestehende bundesrechtliche Pflicht des Senats wiederhole und damit eine eigenständige subjektive Rechtsposition des Parlaments schaffe, welches diese Position - anders als die bundesrechtliche Verpflichtung - auch vor dem Verfassungsgerichtshof durchsetzen könne.
Die ausnahmslose Pflicht zur jährlichen Vorlage des Finanzplans entspreche aber auch dem Wesen sowie Sinn und Zweck der fünfjährigen Finanzplanung. Sinn und Zweck der Finanzplanung sei es, die Haushaltswirtschaft, die von dem kurzfristig angelegten System der jährlichen Haushaltsplanung dominiert werde, in einen mittelfristigen Orientierungsrahmen ein-zuordnen, der einen Überblick über längerfristige finanz- und wirtschaftspolitische Zielvorstel-lungen verschaffe und eine die größeren Problem- und Lösungszusammenhänge reflektierende Haushaltsperspektive vermittele. Die mehrjährige Finanzplanung solle dabei helfen, haushaltspolitische Entscheidungen, insbesondere über größere haushaltswirtschaftliche Maßnahmen wie etwa umfangreiche Investitionsvorhaben, mit Rücksicht auf die daraus folgenden Konsequenzen für das Haushaltsvolumen und den Haushaltsausgleich über einen längeren Zeitraum zu treffen. Die mehrjährige Finanzplanung habe damit für finanzwirtschaftliche Rationalität und geplante Kontinuität zu sorgen.
Diese Funktionen könne eine fünfjährige Finanzplanung auch in einem Haushaltsjahr erfüllen, in welchem dem Parlament der Entwurf eines Haushaltsgesetzes für das nächste Haushaltsjahr nicht vorgelegt werden müsse. Dies gelte etwa hinsichtlich des Handelns der Exekutive. Diese sei nicht verpflichtet, den Haushalt durch Ausgaben und Verpflichtungsübernahmen umzusetzen. Vielmehr entscheide sie im Rahmen der geltenden Gesetze nach eigenem Ermessen. Es liege auf der Hand, dass ihr dabei eine jährlich fortgeführte, aktuelle Finanzplanung die notwendige Orientierung bieten könne, um ihr Handeln - insbesondere soweit es um den Haushaltsausgleich oder konjunktur- und wirtschaftslenkende Maßnahmen gehe - auf eine mittelfristige Perspektive auszurichten. Aber auch Parlament und Öffentlichkeit könnten ihr Verhalten und die Kontrolle der Regierung im laufenden Haushaltsjahr an einer fünfjährigen jeweils jährlich fortgeschriebenen Finanzplanung unabhängig davon orientieren, ob es der Feststellung eines Haushaltsplanes für das nächste Haushaltsjahr bedürfe. Dies gelte hinsichtlich des Parlaments um so mehr, als das Parlament auch im Falle eines Doppelhaushalts im laufenden Haushaltsjahr mit haushaltswirtschaftlichen Fragen befasst werden könne. So sei nach der Berliner Verfassung im Falle einer Haushaltsüberschreitung die Genehmigung des Abgeordnetenhauses einzuholen. Ebenso sei es etwa denkbar, dass im laufenden Haushaltsjahr Nachträge zum Haushaltsgesetz eingebracht würden.
Die ausnahmslose jährliche Anpassung des Finanzplans an die Entwicklung und seine jährliche Fortführung machten gerade das Wesen der Finanzplanung aus. Dieses werde geprägt durch den mehrjährigen Zeitraum, für den die Planung gelten solle. Erfahrungsgemäß sei schon der ein- oder zweijährige Haushaltsplan mit zahlreichen Risiken behaftet, die sowohl in den Annahmen über die finanz- und gesamtwirtschaftliche Entwicklung und damit in der Ungenauigkeit der Schätzung der einzelnen Einnahmen und Ausgaben als auch in unvorhergesehen eintretenden Ereignissen lägen, die sich einer Einflussnahme durch die Regierung oder das Parlament entzögen. Um so mehr müsse dies für die mittelfristige Prognose der voraussichtlichen Ausgaben oder der mutmaßlichen Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögens gelten. Schon kleine Veränderungen der Prognosegrundlage, wozu bereits ein Abweichen des festgestellten Haushaltsplanes von der ihm zugrundelie-genden Finanzplanung zählen könne, könnten hier erhebliche Auswirkungen auf die Verlässlichkeit der auf fünf Jahre angelegten Prognose selbst haben. Andererseits solle der Finanzplan aber Regierung und Parlament eine verlässliche Orientierungshilfe sein, die es ermögliche, auf unerwartete Entwicklungen auch kurzfristig reagieren zu können. Deshalb wider-spreche es dem Wesen der Finanzplanung, sie in größeren zeitlichen Abständen als einem Jahr der Entwicklung anzupassen.
Die Pflicht, die fünfjährige Finanzplanung nicht nur jährlich fortzuführen, sondern sie dem Parlament auch jährlich vorzulegen, dürfe nicht zuletzt von einiger Bedeutung für die Qualitätssicherung der Finanzplanung sein. Denn indem die Regierung dazu gezwungen sei, den jährlichen Finanzplan dem Parlament vorzulegen und ihn damit der parlamentarischen Kontrolle und Auseinandersetzung aber auch der öffentlichen Kritik auszusetzen, werde sie womöglich in verstärktem Maße dazu angehalten, ein der finanzwirtschaftlichen Rationalität verpflichtetes, konsequentes mittelfristiges Konzept ihrer Politik auszuarbeiten.
Erläuterungen
Der Senat von Berlin hatte dem Abgeordnetenhaus von Berlin Ende Juli 2003 den Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Haushaltsplans von Berlin für die Haushaltsjahre 2004 und 2005 zur Beschlussfassung vorgelegt. Anfang September 2003 legte er dem Abgeordnetenhaus den Finanzplan für die Jahre 2003 bis 2007 vor. Das Abgeordnetenhaus beschloss Anfang April 2004 mit Wir-kung zum 1. Januar 2004 einen Doppelhaushalt für die Jahre 2004 und 2005. Ende November 2004 lehnte das Abgeordnetenhaus den dringlichen Antrag der FDP-Fraktion ab, den Senat von Berlin auf-zufordern, bis zum 31. Dezember 2004 die mittelfristige Finanzplanung von Berlin für die Jahre 2004 bis 2008 zu erstellen. In der Aussprache, die der Abstimmung vorausging, erklärte der Senator für Finanzen, dass die nächste Finanzplanung für Berlin erst mit dem Haushalt für das Jahr 2006 vorgelegt werde. Ende Dezember 2004 war der Antrag der Antragsteller auf Durchführung eines Organ-streitverfahrens bei dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin eingegangen.© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 02.12.2005
Quelle: Pressemitteilung des VerfGH vom 22.11.2005
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