18.10.2024
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Dokument-Nr. 4543

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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil26.06.2007

Westlich orientierte irakische Frau darf nicht abgeschoben werdenDrohende Verfolgung aus religiösen und geschlechts­s­pe­zi­fischen Gründen

Einer „westlich“ orientierten jungen irakischen Frau, die in Deutschland aufgewachsen ist und im Irak keinen Famili­en­rückhalt hat, droht in ihrem Heimatland geschlechts­s­pe­zi­fische Verfolgung. Das hat das Verwal­tungs­gericht Stuttgart auf die Klage einer irakischen Asylbewerberin entschieden und den Widerruf ihres Abschie­bungs­verbots durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgehoben.

Die in Bagdad geborene 17-jährige Klägerin reiste zusammen mit ihrer Mutter im November 2000 nach Deutschland ein und erhielt im Januar 2001 Abschie­bungs­schutz. Mit Bescheid vom 22.03.2007 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Abschie­bungs­verbot. Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage trug sie u.a. vor, sie habe in Bagdad nie eine Schule besucht. Sie sei in Deutschland aufgewachsen und komplett integriert. Als nicht verheiratete Mutter eines minderjährigen Kindes und mit ihrem westlichen Lebensstil würde sie im Irak zur Zielscheibe radikaler Muslime. Im übrigen herrsche im Irak Bürgerkrieg.

Die 6. Kammer des Verwal­tungs­ge­richts führte aus:

Der Widerruf des Abschie­bungs­verbotes sei rechtswidrig, denn der Klägerin würde bei einer Rückkehr wahrscheinlich geschlechts­s­pe­zi­fische Verfolgung durch nichtstaatliche „Akteure“ im gesamten Irak drohen. Ein typischer Fall der geschlechts­s­pe­zi­fischen Verfolgung sei die Entrechtung von Frauen, sei es durch sexuelle oder sonstige Gewalt, „Ehrenmorde“, fortlaufende Diskriminierung in der Öffentlichkeit und in der Familie, aber auch durch die Praxis, Frauen, die sich den herrschenden repressiven Vorschriften über die Bekleidung und das Auftreten in der Öffentlichkeit verweigern, zu misshandeln oder ihnen noch Schlimmeres anzutun. All dies geschehe im gesamten Irak fortlaufend. So erläutere das Auswärtige Amt unter Bezug auf den US-Menschen­rechts­bericht 2005, dass irakische Frauen in Basra getötet worden seien, weil sie traditionelle Beklei­dungs­vor­schriften nicht befolgt hätten. Die irakische Polizei berichte, dass es im Juli 2005 in Bagdad mehrere Fälle von Säureattentaten gegen Frauen gegeben habe, weil die Opfer es abgelehnt hätten, sich zu verschleiern. In der irakischen Gesellschaft seien Tendenzen zur Durchsetzung islamischer Regeln, z.B. Kleider­vor­schriften, erkennbar und nähmen zu. Frauen würden verstärkt unter Druck gesetzt, was ihre Freizügigkeit und ihre Möglichkeiten zur Teilnahme am öffentlichen Leben einschränke. Der UNHCR führe auch ausdrücklich aus, die irakischen Behör-den seien nicht in der Lage, ausreichenden Schutz gegen Verfolgungen durch nicht-staatliche Akteure zu bieten.

Von derartiger Verfolgung werde speziell auch die Klägerin betroffen sein. Sie habe auf das Gericht in der mündlichen Verhandlung den Eindruck einer „westlich“ orientierten, selbstbewussten jungen Frau gemacht. Sie unterscheide sich im „Outfit“ und Verhalten nicht von einer Deutschen gleichen Alters, spreche viel besser Deutsch als Kurdisch und sei nicht religiös. Zudem habe sie ein nichteheliches Kind. Bei einer Rückkehr in den Irak, den sie im Alter von zehn Jahren verlassen habe, werde sie Anstoß erregen, und zwar selbst wenn sie sich (was sie aber nicht wolle) in der Öffentlichkeit den dortigen Beklei­dungs­vor­schriften unterwerfen würde. Als unverheiratete Frau mit einem kleinen Kind, die im Irak keine näheren Verwandten und auch keine Freunde habe, mit ihrem selbstbewussten Auftreten sowie bei ihrer Unkenntnis der religiösen Vorschriften und der unvollkommenen Beherrschung der Landessprache würde sie mit großer Wahrschein­lichkeit alsbald ins Blickfeld von Funda­men­ta­listen geraten. Dies würde dann zu den von UNHCR und dem Auswärtigen Amt beschriebenen schlimmen Repressalien führen, ohne dass sie Schutz vor Verfolgung erwarten könne.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des VG Stuttgart vom 11.07.2007

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