15.11.2024
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Dokument-Nr. 551

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Urteil31.05.2005Verwaltungsgericht Stuttgart16 K 1120/05
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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil31.05.2005

Klagen wegen Feinstaub erfolgreich - VG Stuttgart fordert Anti-Feinstaub-Katalog

Auf die Klagen zweier Bewohner von Stuttgart hat die 16. Kammer des Verwal­tungs­ge­richts Stuttgart das beklagte Land Baden-Württemberg - vertreten durch das Regie­rungs­prä­sidium Stuttgart - dazu verurteilt, für das Gebiet der Landes­hauptstadt Stuttgart einen immis­si­ons­schutz­recht­lichen Aktionsplan im Hinblick auf Überschrei­tungen der für Feinschwe­bestaub verordneten Immis­si­ons­grenzwerte aufzustellen.

I.

Die Kläger machen die Gefahr von Schäden an ihrer Gesundheit als Folge des den festgelegten Grenzwert überschrei­tenden, verbotenen Feinschwe­be­staubes an bestimmten (Mess-)Stellen im Stadtgebiet von Stuttgart geltend. Sie fordern deshalb vom Beklagten, einen immis­si­ons­schutz­recht­lichen Aktionsplan aufzustellen, der inhaltlich festzulegen habe, welche geeigneten Maßnahmen im Stadtgebiet - von den örtlich zuständigen Behörden - kurzfristig zu ergreifen seien zum Schutze ihrer Gesundheit gegen die bereits verwirklichte Gefahr der lokalen Überschreitung des seit 01.01.2005 geltenden Tages­mit­tel­wertes für Feinschwe­bestaub (Partikel mit der Bezeichnung PM10) von 50 µm/m3 unter Berück­sich­tigung von 35 zulässigen Überschrei­tungen je Kalenderjahr.

Feinschwe­bestaub (PM10) wird durch anthropogene (d. h. von Menschen verursachte) Quellen, wie z.B. durch den Straßenverkehr infolge von Ruß-Partikeln aus dem Auspuff von Diesel-Fahrzeugen, infolge des Abriebes von Reifen, Bremsen und Kuppe­lungs­belägen und dessen Aufwirbelungen hervorgerufen. Er ist verantwortlich für gesundheitliche Auswirkungen. Ultrafeine Partikel können sogar über die Lungenbläschen bis in die Blutbahn vordringen und sich dann über den Blutweg im Körper verteilen. Feinschwe­bestaub kann dazu führen, dass es zu vorüber gehenden Beein­träch­ti­gungen der Atemwege kommt, die in der Zunahme von Atemwegs­sym­ptomen, wie z.B. Husten und verschlech­terten Lungen-Messwerten, liegen können, dass es ferner zu einem erhöhten Medika­men­ten­bedarf bei Asthmatikern bis zu vermehrten Kranken­haus­auf­ent­halten sowie einer Zunahme der Sterblichkeit wegen Atemwegs­er­kran­kungen und Herz-Kreis­lauf­pro­blemen kommt. Den Angaben aus den EG- Mitgliedstaaten zufolge werden in 12 der EU-15-Staaten die Grenzwerte überschritten. Nach den Ergebnissen einer Studie, so die EU-Kommission, würden jedes Jahr etwa 300 000 Europäer vorzeitig an Herz- und Krebs­er­kran­kungen sterben, die vor allem durch Emissionen des Verkehrs und der Industrie ausgelöst würden. Die Lebenserwartung jedes Europäers sinke durch­schnittlich um 9 Monate. Wichtigster Faktor sei dabei der Feinschwe­bestaub.

Das Erfordernis eines immis­si­ons­schutz­recht­lichen Aktionsplanes und der festgelegte Immis­si­ons­grenzwert (IGW), von denen jeweils hier die Rede ist, gehen zurück auf die sogen. Luftqualitäts-Grundlagen-Richtlinie der Europäischen Gemeinschaften (EG) aus dem Jahre 1996 und auf die diese Richtlinie ergänzende, im Juli 2001 in Kraft getretene EG-Richtlinie über Grenzwerte unter anderem auch für Feinschwe­bestaub (PM10), einer sogenannten Tochter-Richtlinie zur Luftqualitäts-Grundlagen-Richtlinie. Die beiden EG-Richtlinien bedurften der Umsetzung in nationales (deutsches) Recht. Diese Umsetzung in deutsches Recht erfolgte dann auch durch Änderungen und Ergänzungen des Bundes-Immis­si­ons­schutz­ge­setzes (BImSchG) sowie - mit über einjähriger Verspätung - durch den Erlass der "Verordnung über Immissionswerte für Schadstoffe in der Luft" (22. BImSchV) vom September 2002.

Die erwähnte Luftqualitäts-Grundlagen-Richtlinie 1996 und das Bundes-Immis­si­ons­schutz­gesetz schreiben vor, dass zur Verbesserung der Luftqualität Aktionspläne zu erstellen sind, in denen geeignete Maßnahmen angegeben werden, die im Falle der Gefahr einer Überschreitung des Grenzwertes namentlich für Feinschwe­bestaub kurzfristig zu ergreifen sind, um die Gefahr der Überscheitung zu verringern und deren Dauer zu beschränken. Dabei können Aktionspläne, je nach Fall, Maßnahmen zur Kontrolle und, soweit erforderlich, zur Aussetzung der Tätigkeiten vorsehen, die zu einer Überschreitung der Grenzwerte beitragen, einschließlich des Kraft­fahr­zeug­verkehrs.

Die UMEG, Zentrum für Umweltmessungen, Umwelter­he­bungen und Geräte­si­cherheit Baden-Württemberg mit Sitz in Karlsruhe, führt seit Anfang 2004 PM10-Spotmessungen an hoch belasteten Haupt­ver­kehr­s­s­traßen von Stuttgart (Arnulf-Klett-Platz, Neckartor, Hohenheimer Straße, Siemensstraße, Waiblinger Straße) durch. Die Messungen erbrachten Werte von mehr als 50 µm/m3 an mehr als 35 Tagen, bezogen auf das Kalenderjahr 2004. Der erst für 2005 maßgebende Grenzwert ist bereits jetzt an mehr als 70 Tagen überschritten.

Die beiden Kläger, die jeweils in der Nähe von verschiedenen Probe­nah­me­stellen mit festgestellten Überschrei­tungen wohnen, haben Ende März 2005 beim Verwal­tungs­gericht Stuttgart Klagen gegen das Land Baden-Württemberg eingereicht. Sie rügen, dass das Land durch das beauftragte Regie­rungs­prä­sidium Stuttgart bisher seiner gesetzlichen Verpflichtung aus dem BImSchG und aus der 22. BImSchV zur Aufstellung eines Aktionsplanes für den Ballungsraum Stuttgart noch nicht nachgekommen sei, und begehren eine entsprechende Verurteilung des Landes.

II.

Die 16. Kammer des Verwal­tungs­ge­richts Stuttgart hat im heutigen Verhandlungs- und anschließenden Verkün­dungs­termin der Klage stattgegeben. Zu den Urteilsgründen hat der Vorsitzende der Kammer, Prof. Karlheinz Schlotterbeck, im Wesentlichen ausgeführt:

1. Der von den Klägern erstrebte, auf der Grundlage des BImSchG zwingend zu erlassende Aktionsplan dient der Durchsetzung der europarechtlich veranlassten und beeinflussten Vorschriften der 22. BImSchV, wonach es nicht nur im Interesse der Umwelt im Allgemeinen, sondern - und dies vor allem - auch im Interesse der menschlichen Gesundheit erforderlich ist, dass der seit 01.01.2005 für Feinschwe­bestaub geltende Grenzwert unter Berück­sich­tigung von Toleranzmargen (35 Tage / Kalenderjahr) eingehalten und dann nicht mehr überschritten wird; jede Überschreitung.

2. Die Kammer hat erkannt, dass die Kläger zu den Menschen gehören, die von der Grenz­wert­re­gelung der 22. BImSchV in ihrer Gesundheit geschützt sind. Schutz der menschlichen Gesundheit im Allgemeinen ohne effektiven, einklagbaren Schutz der Gesundheit Einzelner im Besonderen wäre ein Widerspruch in sich. Die Kläger gehören als Bewohner von Stuttgart einem Personenkreis an, der sich durch das Vorliegen eines sogenannten faktischen Aktio­ns­plan­ge­bietes nach Maßgabe der höchst­rich­ter­lichen Rechtsprechung auch indivi­du­a­li­sieren lässt. Unter einem faktischen Aktio­ns­plan­gebiet soll, was das Stadtgebiet von Stuttgart anbelangt, ein Ballungsraum im Sinne der 22. BImSchV verstanden werden, für den es einen Aktionsplan - aus welchen Gründen auch immer - zwar noch nicht gibt, für den aber ein solcher Plan zwingend aufzustellen ist, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Das faktische Aktio­ns­plan­gebiet entspricht einem immis­si­ons­schutz­recht­lichen Gefahrengebiet, weil es durch die Gefahr gekennzeichnet ist, dass die festgelegten Grenzwerte überschritten werden können.

3. Die Kammer hat ferner erkannt, dass die auch im Interesse der Kläger bestehende Verpflichtung des Landes, einen Aktionsplan für den Ballungsraum Stuttgart aufzustellen, nicht erst seit August 2004, als die Grenz­wert­über­schrei­tungen durch die UMEG offenbart wurden, und schon gar nicht erst seit 01.01.2005, dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Grenz­wert­re­gelung, besteht. Die Verpflichtung ist jedenfalls schon in dem Zeitpunkt entstanden, in dem die 22. BImSchV in Kraft getreten ist, nämlich im September 2002, wenn ihre Entstehung nicht schon durch die Verpflichtung zur Umsetzung der EU-Grenzwert-Richtlinie ab Juli 2001 ausgelöst worden ist.

Gegen das Urteil wurde die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (Az.:16 K 1120/05 und 16 K 1121/05) .

Quelle: Pressemitteilung des VG Stuttgart vom 31.05.2005

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