15.11.2024
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Dokument-Nr. 1776

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Urteil13.01.2006Thüringer Oberlandesgericht Jena1 Ss 296/05
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2006, 1892Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2006, Seite: 1892
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Thüringer Oberlandesgericht Jena Urteil13.01.2006

"Kirchenstörer von Erfurt": Laute Rufe während eines Gottesdienstes erfüllen den Straftatbestand der Störung der Religi­o­ns­ausübung"Kirchenstörer von Erfurt" nicht nur des Hausfrie­dens­bruchs sondern auch der Störung der Religi­o­ns­ausübung schuldig

Der als "Kirchenstörer von Erfurt" bekannt gewordene Angeklagte wurde von dem Oberlan­des­gericht Jena auch der "Störung der Religi­o­ns­ausübung" für schuldig befunden. Der Angeklagte hatte 2004 den zentralen Festgot­tes­dienst am Tag der deutschen Einheit gestört und im Erfurter Dom die Predigt des Thüringer Landesbischofs Christoph Kähler mit Schreien unterbrochen und mit Flugblättern um sich geworfen.

Vor dem Thüringer Oberlan­des­gericht hat die öffentliche Haupt­ver­handlung im Revisi­ons­ver­fahren im Fall des in den Medien als „Kirchenstörer von Erfurt“ bezeichneten 30-jährigen Angeklagten stattgefunden. ach Durchführung der Verhandlung verkündete der Vorsitzende Richter des 1. Strafsenats das Urteil.

OLG Jena ändert Schuldspruch ab

Auf die Revision der Staats­an­walt­schaft wurde das Berufungsurteil des Landgerichts Erfurt im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte des Hausfrie­dens­bruchs in Tatmehrheit mit Störung der Religi­o­ns­ausübung schuldig ist. Hingegen hat der Senat die auf einen Freispruch gerichtete Revision des Angeklagten verworfen.

Landgericht sah lediglich Straftatbestand des Hausfrie­densbruch als erfüllt an

Das Landgericht hatte den Angeklagten lediglich wegen Hausfrie­densbruch verurteilt, nicht aber wegen Störung der Religi­o­ns­ausübung, da nach Auffassung des Berufungs­ge­richts insoweit das Grundrecht des Angeklagten auf freie Religi­o­ns­ausübung (Artikel 4 des Grundgesetzes) zu beachten sei. Das Thüringer Oberlan­des­gericht hat sich insoweit der Argumentation des Landgerichts nicht angeschlossen.

Grundrecht des Domkapitels auf Eigentum genießt vor der Glaubens­freiheit des Angeklagten Vorrang

In seiner mündlich vorgetragenen Urteils­be­gründung führte der Vorsitzende Richter zunächst aus, dass die Verurteilung des Angeklagten wegen Hausfrie­dens­bruchs zutreffend erfolgt sei. Der Angeklagte sei widerrechtlich in den Erfurter Dom eingedrungen, bei dem es sich um einen abgeschlossenen Raum handele, der dem öffentlichen Dienst bestimmt sei. Das Handeln des Angeklagten sei auch nicht durch die Ausübung des Grundrechts auf Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit gerechtfertigt gewesen. Eine hier vorzunehmende Güter- und Inter­es­se­n­ab­wägung führe zu dem Ergebnis, dass das hier ebenfalls betroffene Grundrecht des Domkapitels auf Eigentum, welches auch die Befugnis umfasse zu entscheiden, wer wann und bei welchen Gelegenheiten die Räumlichkeiten des Domes betreten darf, den Vorrang vor der Glaubens­freiheit des Angeklagten genieße. Der vom Angeklagten verübte Hausfrie­densbruch stelle nämlich einen Eingriff in den Kernbereich des Eigentumsrechts des Domkapitels dar, während die Bestrafung des Eindringens in den Mariendom die Glaubens­freiheit des Angeklagten nur peripher tangiere. Dieser müsse seinen Glauben nicht überall verwirklichen können, insbesondere nicht an fremden Orten gegen den Willen des Hausrechts­in­habers.

Angeklagter muss seine Glaubens­über­zeugung nicht notwendig während eines fremden Gottesdienstes lautstark und störend kundtun

Im Gegensatz zur Auffassung des Landgerichts hat der Senat auch die vom Angeklagten absichtlich begangene Störung des Festgot­tes­dienstes nicht als durch die Ausübung des Grundrechts auf Glaubens­freiheit als gerechtfertigt angesehen. Diesem Grundrecht des Angeklagten stünden unter anderem die Grundrechte auf Glaubens­freiheit der einzelnen Kirchenbesucher und der Veranstalter des Gottesdienstes gegenüber. Dies gelte sowohl für die Freiheit, der eigenen Glaubens­über­zeugung entsprechend zu handeln und insbesondere an rituellen Feiern ungestört teilzunehmen als auch für das Recht, sich keine fremden Glaubens­über­zeu­gungen aufzwingen lassen zu müssen. Auch hier sei zu berücksichtigen, dass das Grundrecht des Angeklagten nur peripher betroffen sei, da dieser seine Glaubens­über­zeugung nicht notwendig während eines fremden Gottesdienstes lautstark und störend kundtun müsse.

OLG verweist Sache zurück

Der Senat hat die Sache zur Festsetzung einer Einzelstrafe für die vom Angeklagten begangene Störung der Religi­o­ns­ausübung und zur Bildung einer Gesamtstrafe an eine andere Strafkammer des Landgerichts Erfurt zurückverwiesen, wobei der Senat festgestellt hat, dass die vom Landgericht vorgenommene Verurteilung wegen Hausfrie­dens­bruches zu einer Einzel­frei­heits­strafe von 5 Monaten nicht zu beanstanden ist.

Quelle: ra-online, OLG Thüringen (pm/pt)

der Leitsatz

1. Zur Rechtfertigung des Eindringens in ein Kirchengebäude und der Störung der Religi­o­ns­ausübung durch die Wahrnehmung von Grundrechten. Hier: Abwägung zwischen dem Grundrecht des Täters aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und dem Grundrecht des Domkapitels aus Art. 14 Abs. 1 GG bzw. den Grundrechten der Gottes­dienst­be­sucher, der Fernseh­zu­schauer, der Kirchgemeinde sowie der Veranstalter des Festgot­tes­dienstes aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.

2. Allein der Umstand, dass der Täter in das Kirchengebäude eingedrungen ist, um dort am nächsten Tag einen Festgot­tes­dienst zu stören, führt nicht zur Annahme von Tateinheit.

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