21.11.2024
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Sozialgericht Berlin Urteil23.03.2015

Keine Hartz IV-Kürzung für Wurst­ver­käuferin auf DiätNicht verzehrte Betrie­bs­ver­pflegung darf nicht pauschal als Einkommen auf Hartz IV-Anspruch angerechnet werden

Eine Pausen­ver­pflegung, die ein Arbeitgeber bereitstellt, darf nicht pauschal zur Kürzung des Regelbedarfs von Leistungs­berechtigten führen. Dies gilt erst recht, wenn sie - wie im vorliegenden Fall - aus gesund­heit­lichen Gründen gar nicht verzehrt wird. Dies geht aus einer Entscheidung des Sozialgerichts Berlin hervor.

Die 1969 geborene Klägerin des zugrunde liegenden Verfahrens arbeitete im umstrittenen Zeitraum 2013 als Verkäuferin bei einem Berliner Betrieb für Fleisch- und Wurstwaren. Als sogenannte Aufstocker erhielten sie und ihr Kind vom Jobcenter Reinickendorf ergänzende Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende ("Hartz IV"). Auf den ALG II-Anspruch rechnete das Jobcenter allerdings nicht nur das ausgezahlte Erwer­b­s­ein­kommen von monatlich rund 1.000 Euro an, sondern entsprechend den Vorgaben der ALG II-Verordnung auch eine Pauschale für die Pausen­ver­pflegung, die der Arbeitgeber seinen Angestellten zur Verfügung stellte (monatlich zwischen rund 35 und 50 Euro).

Klägerin fühlt sich durch Anrechnung der Pauschale in Persön­lich­keits­rechten verletzt

Mit ihrer im Juni 2014 erhobenen Klage wandte sich die Klägerin gegen die Anrechnung der Verpfle­gungs­pau­schale. Sie trug vor, dass sie die zur Verfügung gestellten Speisen gar nicht gegessen habe. Aus gesund­heit­lichen Gründen habe sie viel abgenommen und sehr auf ihre Ernährung geachtet. Das Essen – viel Fleisch, Wurst, Salate mit Mayonnaise – sei jedoch sehr fett und kohlen­hy­dra­treich gewesen. Dass trotzdem eine Pauschale angerechnet werde, verletze sie in ihren Persön­lich­keits­rechten.

SG: Bedürf­nis­lo­sigkeit darf nicht zum Leistungsentzug führen

Das Sozialgericht Berlin gab der Klägerin Recht und änderte die Bescheide des Jobcenters ab. Die entsprechende Vorschrift der ALG II-Verordnung zur Anrechnung von Verpflegung verstoße gegen höherrangiges Recht. Sie beachte nicht, dass nach dem Grundprinzip der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) eine abschließend pauschalierte Leistung zur Sicherung des Lebens­un­ter­haltes gewährt werde (die sogenannte Regelleistung). Eine aufwendige individuelle Bedarfs­er­mittlung sei daneben weder zugunsten noch zulasten der Leistungs­emp­fänger vorgesehen. Die pauschalierte Regelleistung solle gerade die Selbst­ver­ant­wortung und Eigen­stän­digkeit der Hilfeempfänger fördern. Bedürf­nis­lo­sigkeit dürfe nicht zum Leistungsentzug führen.

Normverständnis des Jobcenters beeinträchtigt Klägerin in grundrechtlich geschützter Entschei­dungs­freiheit

Selbst aber wenn man die Wirksamkeit der Vorschrift unterstellen würde, hätte sie einschränkend ausgelegt werden müssen. Unter Beachtung des Selbst­be­stim­mungs­rechts und der allgemeinen Handlungs­freiheit der Leistungs­be­zieher könne eine Anrechnung von Verpflegung nur erfolgen, wenn sie auch tatsächlich verzehrt worden ist. Das Normverständnis des Jobcenters, das allein auf die Bereitstellung der Verpflegung abstelle, beeinträchtige die Betroffenen in ihrer grundrechtlich geschützten Entschei­dungs­freiheit. Es sei leistungs­rechtlich zu respektieren, wenn Leistungs­emp­fänger auf angebotene Verpflegung verzichteten, zum Beispiel aufgrund religiöser Speise­vor­schriften, aus gesund­heit­lichen oder ethisch-moralischen Gründen.

§ 2 Abs. 5 ALG II-Verordnung lautet:

Bei der Berechnung des Einkommens ist der Wert der vom Arbeitgeber bereit­ge­stellten Vollverpflegung mit täglich 1 Prozent des nach § 20 des Zweiten Buches Sozial­ge­setzbuch maßgebenden monatlichen Regelbedarfs anzusetzen. Wird Teilverpflegung bereitgestellt, entfallen auf das Frühstück ein Anteil von 20 Prozent und auf das Mittag- und Abendessen Anteile von je 40 Prozent des sich nach Satz 1 ergebenden Betrages.

Die ALG II-Verordnung wird vom Bundes­mi­nis­terium für Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Bundes­mi­nis­terium für Finanzen erlassen. Ermäch­ti­gungs­grundlage hierfür ist § 13 SGB II. Danach darf das Ministerium unter anderem bestimmen, wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist und welche Pauschbeträge für vom Einkommen abzusetzende Beträge zu berücksichtigen sind.

Quelle: Sozialgericht Berlin/ra-online

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