18.10.2024
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Sie sehen einen Teil eines Daches, welches durch einen Sturm stark beschädigt wurde.
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Oberlandesgericht München Urteil29.07.2019

Schadensersatz für Messerunfall bei JugendfreizeitUnfall beruht auf nicht ordnungsgemäße Belehrung und Auf­sichtspflicht­verletzung der Veranstalter

Das Oberlan­des­ge­richts München hat entschieden, dass der Bayerische Jugendring und der Veranstaltungs­leiter den materiellen und immateriellen Schaden, den ein damals 9 jähriges Kind bei einer vom Stadtjugendring veranstalteten Jugendfreizeit mit dem Titel "Abenteuer Winterwald" erlitten hatte, ersetzen muss.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Stadtjugendring I. veranstaltete in den Faschingsferien 2014 eine Freizeit an einem Jugend­bil­dungshaus an einem Baggersee mit dem Titel "Abenteuer Winterwald". Ausweislich des Flyers bestand das Programm aus "Feuer machen, Unterschlupf bauen, Spuren lesen."

Dauerhafte Schädigung des rechten Auges durch Verletzung mit Klappmesser

Die damals 9 jährigen Klägerin war im Rahmen der Jugendfreizeit ein Klappmesser übergeben worden, mit dem sie Rinde von Birken abschälen wollte, um Feuer zu machen. Beim Rindenabschälen geriet ihr das Messer in das rechte Auge. Sie erlitt eine perforierende Hornhaut-Iris-Linsen­ver­letzung, die mehrfach operativ versorgt werden musste. Das rechte Auge ist dauerhaft geschädigt.

Klägerin verlangte Schadensersatz und Schmerzensgeld

Die Klägerin verlangt die Feststellung, dass die Beklagten ihr Schadensersatz und Schmerzensgeld zu leisten haben. Sie hat vortragen lassen, dass anlässlich der Anmeldung zur Veranstaltung ihre Mutter als ihre gesetzliche Vertreterin und auch später nicht darüber aufgeklärt worden sei, dass auf der Veranstaltung mit Messern hantiert werde. Eine Aufklärung der Klägerin selbst sei lediglich hinsichtlich Auf- und Zuklappen des Messers erfolgt.

Beklagte: Alle Vorgaben und Mindest­standards laut Betreu­ungs­sch­lüssel wurden eingehalten

Die Beklagten hingegen, die sich gegen die Klage wehrten, sind der Auffassung, anhand des Programms sei von vornherein ersichtlich gewesen, dass Messer zum Einsatz kommen. Die Klägerin sei auch ausreichend in den Gebrauch des Messers eingewiesen worden. Der Unfall sei nur durch einen anwei­sungs­widrigen Umgang mit dem Messer erklärbar. Die Kinder seien auch ausreichend überwacht worden. Sämtliche Vorgaben und Mindest­standards seien eingehalten worden, der Betreu­ungs­sch­lüssel sei mit 1:5,5 sogar besser gewesen als vorgeschrieben. Eine Entschädigung durch den Unfall­ver­si­cherer sei bereits erfolgt.

OLG München hob Urteil der Vorinstanz auf

OLG München hat aufgrund der Berufung der Klägerin in seiner heutigen Entscheidung das Urteil des Landgerichts Ingolstadt, das die Klage abgewiesen hatte, weil es Verletzung vertraglicher Pflichten oder von Verkehrs­si­che­rungs­pflichten als nicht nachgewiesen erachtete, aufgehoben und der Klage in vollem Umfang stattgegeben.

Kindern im Alter von 7 bis 12 Jahren im Rahmen einer Freizeit ein Schnitzmesser in die Hand zu geben stellt nicht von vornherein eine Pflicht­ver­letzung dar

Das OLG stellte zunächst fest, dass im vorliegenden Fall die vertraglichen Verpflichtungen des Jugendrings und die Verkehrs­si­cherungs-/Aufsichts­pflichten beider Beklagten im Rahmen des § 823 BGB deckungsgleich seien. Das bedeutet, dass die Beklagten die Vorkehrungen treffen mussten, die erforderlich und für sie zumutbar waren, um die Schädigung Dritter möglichst zu verhindern. Dabei gelte einerseits, dass zugunsten von Kindern ein strenger Sicher­heits­maßstab anzulegen sei, andererseits aber auch, dass ein vollständiges Maß an Sicherheit nicht erreichbar sei und Kinder im Alter von sieben bis acht Jahren schon ein gewisses Maß an Selbständigkeit haben und nicht "auf Schritt und Tritt" überwacht werden müssten. Es hat auch dem Vorbringen der Beklagten dahingehend, dass es wichtig sei, Kindern in bewusstem Gegensatz zu Konsum, reiner Spaßo­ri­en­tierung und Fremdbestimmung Angebote der Freizeit­ge­staltung zu unterbreiten, die wesentliche persön­lich­keits­prägende Fähigkeiten wie Selbständigkeit, Eigen­ver­ant­wortung und Risiko­be­wusstsein fördern, zugestimmt. Das OLG hält es deshalb auch nicht von vornherein für pflichtwidrig, Kindern im Alter von 7 bis 12 Jahren im Rahmen einer Freizeit ein Schnitzmesser in die Hand zu geben.

OLG bejahrt Pflicht­ver­letzung wegen nicht ordnungsgemäßer Belehrung und Beaufsichtigung

Trotzdem hat es im vorliegenden Fall eine Pflicht­ver­letzung der Beklagte bejaht und zwar bei der konkreten Belehrung und Beaufsichtigung der damals 9-jährigen Klägerin. Die Kinder seien zwar zum Umgang mit Messern generell (Zuklappen beim Laufen, Schnitzen vom Körper weg) belehrt worden, die Klägerin sei aber nicht darüber belehrt oder es sei ihr gezeigt worden, wie Rinde abzuschälen sei. Außerdem sei die Klägerin bei dem Schadensvorgang allein gewesen. Nach Auffassung des Senats ist auch der Hinweis, vom Körper weg zu schnitzen, nicht ausreichend gewesen, wenn - wie hier - die Rinde von einem Baum abgeschält werden sollte. Bei einem Baum könne man eben nicht vom Körper weg schnitzen. Es wäre vielmehr geboten gewesen, den Kindern zu erläutern, dass man das Messer gar nicht zum regelrechten Scheiden in die Baumrinde verwenden muss (und soll), sondern dass das Messer allenfalls vorsichtig als unterstützendes Hilfsmittel beim Ablösen loser bzw. leicht lösbarer Rindenteile eingesetzt werden sollte, ggf. dass auf einen ausreichenden Abstand von Kopf/Körper zum Messer geachtet wird, oder man hätte das Kind beim Abschälen der Rinde mit dem Messer beaufsichtigen müssen. Als erkennbar gewesen sei, dass die Klägerin mit einem Messer "Rinde abmachen" wollte, hätte es entweder einer vorherigen ausdrücklichen Belehrung und Demonstration bedurft oder jemand hätte mit ihr zum Baum gehen und ihr zeigen müssen, wie es geht.

OLG verneinte ein Mitverschulden der Klägerin

Die Beweisaufnahme habe keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Klägerin mit dem Messer "Unsinn machen" wollte oder aus kindlichem Leichtsinn falsch mit dem Messer umgegangen ist. Der Senat hat die Revision zum BGH nicht zugelassen. Die im Rechtsstreit unterlegenen Beklagten können deshalb (nur) mit Nicht­zu­las­sungs­be­schwerde zum BGH gegen die Entscheidung vorgehen.

Quelle: Oberlandesgericht München, ra-online (pm/ab)

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