Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Januar 2012 lief eine Fußgängerin am linken Fahrbahnrand einer etwa 3,50 m breiten Straße. Zur gleichen Zeit kam ihr ein Autofahrer mit seinem Pkw entgegen. Als die Fußgängerin an einem mit einem Zaun umgebenden Grundstück vorbeilief und sie sich mit dem Pkw auf gleicher Höhe befand, erschrak sie sich aufgrund eines plötzlich bellenden und gegen den Zaun springenden Hundes. Sie machte daher einen Schritt nach rechts, stieß gegen das Fahrzeug, verlor dadurch das Gleichgewicht und stürzte. Der Autofahrer bremste zwar sofort ab, dennoch blieb ein Rad auf dem rechten Sprunggelenk der Fußgängerin stehen. Aufgrund des erlittenen Unterschenkelbruchs, klagte die Fußgängerin gegen den Autofahrer auf Zahlung von Schmerzensgeld.
Das Landgericht Konstanz gab der Schmerzensgeldklage in Höhe von 3.000 EUR statt. Der Autofahrer habe voll umfänglich für die Unfallfolgen haften müssen. Ein Mitverschulden der Fußgängerin sei zu verneinen gewesen. Bei der reflexartigen Bewegung der Fußgängerin habe es rechtlich an der Qualität einer Handlung gefehlt, so dass ihr daraus keine rechtlichen Nachteile habe entstehen können. Zudem habe sich aus der Schreckreaktion kein Fahrlässigkeitsvorwurf ergeben. Gegen diese Entscheidung legte der Autofahrer Berufung ein.
Das Oberlandesgericht Karlsruhe bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz und wies daher die Berufung des Autofahrers zurück. Ihm sei vorzuwerfen gewesen, dass er mit einem zu geringen Seitenabstand an der Fußgängerin vorbeigefahren sei. So habe der Abstand zwischen Fußgängerin und Pkw nur 50 cm betragen. Dieser müsse aber in der Regel 1 m betragen. Es wäre daher geboten gewesen, dass Fahrzeug anzuhalten.
Der Fußgängerin sei nach Ansicht des Oberlandesgerichts kein Mitverschulden anzulasten gewesen. So sei sie zunächst gemäß § 25 Abs. 1 StVO berechtigt gewesen den linken Fahrbahnrand zu benutzen, da es auf der Straße weder einen Gehweg noch einen Seitenstreifen gegeben habe.
Darüber hinaus sei der Fußgängerin nicht vorzuwerfen gewesen, so das Oberlandesgericht weiter, dass sie aufgrund der Schreckreaktion einen Schritt machte und somit den Unfall mitverursachte. Dieses Verhalten sei nicht fahrlässig im Sinne des § 276 Abs. 2 BGB gewesen. Es sei zu beachten gewesen, dass das unerwartete Bellen und Gegen-den-Zaun-Springen des Hundes üblicherweise als Angriffssignal verstanden werde und daher für die Fußgängerin eine plötzliche, im ersten Moment nicht vollständig beherrschbare Gefahrensituation dargestellt habe. Die Fluchtbewegung der Fußgängerin sei somit als Automatismus zu werten gewesen, die jedenfalls im ersten Moment nicht kontrollierbar gewesen sei. Der Fußgängerin sei nicht vorzuwerfen gewesen, dass sie vor dem Schritt keine ausreichende Zeit hatte zu entscheiden, ob der Schritt zum Ausweichen notwendig war oder nicht.
Der Fußgängerin hätte aus Sicht des Oberlandesgerichts ein Fahrlässigkeitsvorwurf nur dann gemacht werden können, wenn das Verhalten des Hundes vorhersehbar gewesen wäre. Dann wäre es möglicherwiese zweckmäßig gewesen, den gegenüberliegenden Fahrbahnrand zu benutzen. Die Fußgängerin habe jedoch nicht mit dem Hundeverhalten rechnen müssen, da es bisher nicht zu solchen Schreckerlebnissen gekommen sei.
Es habe sich jedoch entgegen der Auffassung des Landgerichts um eine Handlung im Rechtssinn gehandelt, so das Oberlandesgericht. Eine unwillkürliche Bewegung, die nicht mehr als Handlung im Rechtssinne bezeichnet werden könne, liege nur dann vor, wenn das betreffende Verhalten nicht der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung der Person unterliegt. Dies sei jedoch bei einer Schreckreaktion bzw. einem Reflex nicht der Fall.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 17.07.2015
Quelle: Oberlandesgericht Karlsruhe, ra-online (vt/rb)