18.10.2024
18.10.2024  
Sie sehen eine Geldbörse mit einer Gesundheitskarte von einer deutschen Krankenversicherung.

Dokument-Nr. 32001

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Urteil29.06.2022Oberlandesgericht Frankfurt am Main7 U 140/21
Vorinstanz:
  • Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil22.07.2020, 5 O 12/18
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Oberlandesgericht Frankfurt am Main Urteil29.06.2022

Private Kranken­ver­si­cherung muss bei inoperablem Tumor nach gescheiterter Chemotherapie Kosten einer Alter­na­tiv­therapie tragenAnspruch auf Übernahme der Kosten für eine neuartige wissen­schaftlich fundierte Alter­na­tiv­therapie

Die dendritische Zelltherapie stellt eine Heilbehandlung im Sinne der Krankheits­kosten­bedingungen (MB/KK 2009) der privaten Kranken­versicherungen dar. Führt eine schul­me­di­zi­nische Erstli­ni­en­therapie (hier: Chemotherapie) bei einer lebens­zer­störend und unheilbar an einem Tumor erkrankten Person nicht zum gewünschten Behand­lungs­erfolg, muss sich die versicherte Person nicht auf eine Zweit­li­ni­en­therapie mit prognostisch noch geringerer Wirksamkeit verweisen lassen. Sie kann vielmehr unmittelbar Übernahme der Kosten einer neuartigen wissen­schaftlich fundierten Alter­na­tiv­therapie verlangen, wenn diese im Zeitpunkt der Behandlung die nicht ganz entfernte Aussicht begründet, einen über die palliative Standa­rd­therapie hinaus­rei­chenden Erfolg zu erbringen. Das Oberlan­des­gericht Frankfurt am Main (OLG) hat die Berufung der Versicherung gegen die Verpflichtung zur vollständigen Kostenübernahme mit heute veröf­fent­lichter Entscheidung zurückgewiesen.

Die Klägerin nimmt die beklagte Kranken­ver­si­cherung auf Koste­n­er­stattung für die medizinische Behandlung ihres mittlerweile verstorbenen Ehemannes in Anspruch. Nach den in den privaten Kranken­ver­si­che­rungs­vertrag einbezogenen Bedingungen leistet der Versicherer, „im vertraglichen Umfang für Untersuchungs- oder Behand­lungs­me­thoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind. Er leistet darüber hinaus für Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis als ebenso Erfolg versprechend bewährt haben oder die angewandt werden, weil keine schul­me­di­zi­nischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen...“.

Koste­n­er­stattung für Immuntherapie mit dendritischen Zellen begehr

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Beim Ehemann der Klägerin war ein nicht operabler Tumor der Bauch­spei­cheldrüse diagnostiziert worden, der Anfang 2018 zunächst mit einer Chemotherapie behandelt worden war. Auch nach dieser Behandlung wurde der Tumor als nicht operabel eingestuft. Es erfolgte eine Behandlung im Rahmen einer kombinierten Immuntherapie mit dendritischen Zellen. Die Beklagte lehnte ihre Erstat­tungs­pflicht hierfür ab, übernahm aber freiwillig die Hälfte der Kosten.

Behandlung mit dendritischen Zellen ist Heilbehandlung

Das Landgericht hatte die Beklagte auch zur Zahlung der nicht übernommenen Kosten verurteilt. Die hiergegen eingelegte Berufung hatte vor dem OLG keinen Erfolg. Die Behandlung mit dendritischen Zellen habe die Symptome der Krebserkrankung lindern und den Gesund­heits­zustand stabilisieren sowie einer Verschlimmerung entgegenwirken sollen. Die spezifische Wirkweise der dendritischen Zellen sei auf die Zerstörung von Tumorzellen ausgerichtet, wie der gerichtliche Sachverständige bestätigt habe.

Zellentherapie war auch medizinisch notwendig

Diese Heilbehandlung sei auch medizinisch notwendig gewesen. „Bei einer lebens­zer­stö­renden, Krankheit kann nicht mehr darauf abgestellt werden, ob sich die gewünschte Behandlung zur Erreichung des vorgegebenen Behand­lungs­zieles tatsächlich eignet“, stellte der Senat insoweit heraus. Die objektive Vertretbarkeit der Behandlung sei vielmehr bereits dann zu bejahen, wenn sie nach medizinischen Erkenntnissen im Zeitpunkt ihrer Vornahme wahrscheinlich auf eine Verhinderung der Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest auf ihre Verlangsamung hinwirke. Ausreichend sei ein nach medizinischen Erkenntnissen nachvoll­ziehbarer Ansatz, der die prognostizierte Wirkweise auf das angestrebte Behandlungsziel erklären könne. Eine hinreichende wissen­schaftliche Evidenz für die Effektivität sei nicht erforderlich. Der Sachverständige habe hier einen solchen nachvoll­ziehbaren Ansatz bestätigt, der - jedenfalls bei bestimmten Krebsarten - mittlerweile auch Erfolge zeige.

Zweifelhafte Erfolg mit Zweit­li­ni­en­therapie muss nicht abgewartet werden

Da hier eine schul­me­di­zi­nische Erstli­ni­en­therapie versucht worden sei, die keinen Behand­lungs­erfolg erbracht habe, habe unmittelbar auf den „neuartige(n) wissen­schaftlich fundierte(n) Ansatz der Alternativtherapie zurückgegriffen“ werden dürfen. Es sei nicht zunächst noch der prognostisch zweifelhafte Erfolg einer Zweit­li­ni­en­therapie abzuwarten. Die in den Versi­che­rungs­be­din­gungen aufgegriffene Formulierung, ob ein bestimmtes schul­me­di­zi­nisches Arzneimittel „zur Verfügung“ stehe, dürfe der Versi­che­rungs­nehmer vielmehr so auffassen, dass er sich nicht auf nahezu aussichtslose schul­me­di­zi­nische Methoden verweisen lassen müsse.

Neuartige Behand­lungs­formen bei forts­chrei­tenden und lebens­zer­stö­renden Erkrankung

Bei einer schnell forts­chrei­tenden und lebens­zer­stö­renden Erkrankung müsse auch auf neuartige Behand­lungs­formen zugegriffen werden können, sofern sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Durchführung der Therapie eine gegenüber einem schul­me­di­zi­nischen Ansatz potentiell bessere Eignung aus einem fundierten wissen­schaft­lichen Ansatz ergebe, selbst wenn dieser im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in Bezug auf die spezifische Krebsart nicht mehr verfolgt werde. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Mit der Nicht­zu­las­sungs­be­schwerde kann die Beklagte die Zulassung der Revision beim BGH begehren.

Quelle: Oberlandesgericht Frankfurt am Main, ra-online (pm/ab)

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