Der Kläger befand sich zunächst aufgrund fehlerhaft erstatteter Gutachten in der Klinik. Bei ihm wurden die Unterbringungsvoraussetzungen des § 1 HFEG (Gesetz über die Entziehung der Freiheit geisteskranker, geistesschwacher, rauschgift- oder alkoholsüchtiger Personen) unzutreffend bejaht. Danach sind "geisteskranke" und "geistesschwache" Menschen in einer geschlossenen Krankenabteilung oder einer anderen geeignete Verwahrung unterzubringen, wenn aus ihrem Geisteszustand oder ihrer Sucht eine erhebliche Gefahr für ihre Mitmenschen oder für sich selbst droht und diese nicht anders abgewendet werden kann.
Die Klinikärzte hatten dem Kläger unzutreffend Schwachsinn attestiert und eine bestehende Selbst- bzw. Fremdgefährdung angenommen. Dies, obwohl der Kläger lediglich minderbegabt war, nicht aber über einen IQ unter 70 Punkten verfügte. Zudem leiteten die Ärzte fehlerhaft aus dem bloßen Vorhandensein des Schwachsinns eine Selbst- oder Fremdgefährdung ab. Sie bejahten also unzutreffend die Unterbringungsvoraussetzungen, wobei sie grob fahrlässig handelten.
Während seiner Unterbringung wurde der Kläger mehrfach nach Tätlichkeiten zwangsweise fixiert. Ferner wurde er während der Unterbringung fehlerhaft behandelt, indem ihm Medikamente ohne entpsrechende Indikation und in überhöhter Dosierung verordnet wurden. Die Medikamente führten zu zahlreichen Nebenwirkungen.
Nachdem der Kläger über vier Jahre rechtswidrig in der Klinik untergebracht war, entwickelte sich schließlich ein psychiatrischer Befund, nach dem die Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung schließlich vorlagen. Das Landgericht Marburg entschied jedoch, dass in die für die Schmerzensgeldbemessung maßgebliche Dauer der Freiheitsentziehung auch die Unterbringung in den Zeiträumen miteinzubeziehen sind, in denen das Merkmal der Fremdgefährdung beim Kläger eingetreten war. Denn dies stellte sich als Folge der vorausgegangenen widerrechtlichen Freiheitsentziehung und der vorangegangenen fehlerhaften Behandlung und damit im Rahmen haftungsausfüllender Kausalität als aus den Rechtsgutverletzungen erwachsender Schaden dar.
Das Landgericht hielt für die achteinhalbjährige Freiheitsentziehung in der psychiatrischen Klinik ein Schmerzensgeld in Höhe von 500.000 DM für angemessen und ausreichend. Das Gericht konstatierte dabei, dass es keine gesicherten Vergleichsfälle gebe. Es zitierte einige Schmerzensgeldverfahren aufgrund Freiheitsentzugs, in denen die Dauer der Freiheitsentziehung allerdings deutlich unter den streitgegenständlichen achteinhalb Jahren lag. Dabei stellte das Gericht fest, dass sich eine einheitliche Rechtsprechung und sichere Wertungsmaßstäbe zur Bemessung des Schmerzensgeldes bei Freiheitsentziehungen bislang nicht abgebildet haben.
Neben dem Zeitablauf sind der Grad des Verschuldens, die Auswirkungen für den Betroffenen im Rahmen seines Umfelds und alle anderen Wertungsgesichtspunkte zu berücksichtigen. Hinsichtlich des Zeitablaufs vertrat das Gericht die Auffassung, dass Freiheitsentziehung und damit verbundene Beeinträchtigungen mit steigender Dauer nicht als weniger belastend empfunden werden. Dies belege der vorliegende Fall, in dem der Kläger während der gesamten Dauer der Unterbringung durch Rechtsmittel gegen die Unterbringungsbeschlüsse, Entlassungsanträge, Schreiben an behandelnde Ärzte und Beauftragung von Rechtsanwälten versucht habe, ein Ende der Unterbringung herbeizuführen. Dabei gab er immer wieder zu erkennen, dass er die Unterbringung nicht hinnahm und jederzeit als belastend empfand.
Bei der Schmerzensgeldbemessung berücksichtigte das Gericht, dass der Kläger durch die jahrelange Unterbringung Einschränkungen im psychosozialen Bereich erfuhr und eine Entwicklung zur Einsamkeit eintrat. Ferner wurde der Kläger alkoholabhängig, was unter anderem auf die traumatisierende Wirkung zurückzuführen war.
Schmerzensgelderhöhend wirkte sich ebenfalls die langjährige Verweigerung der Akteneinsicht durch den beklagten Krankenhausträger aus. Erschwerend bei der Schmerzensgeldbemessung berücksichtigte das Gericht ferner die grobe Fahrlässigkeit bei der Erstellung der Gutachten sowie die Tatsache, dass sich bei dem Kläger erst durch die von ihm erlittenen Unterbringungsbedingungen ein die weitere Unterbringung tragender psychiatrischer Befund ausgebildet hat. Einen weiteren erschwerenden Aspekt stellen die infolge der Medikamentenverabreichung aufgetretenen zahlreichen Nebenwirkungen und die noch Jahre nach der Unterbringung bestehenden Spätdyskinesien dar.
Im Vergleich zu den bisherigen von deutschen Gerichten zuerkannten höchsten Schmerzensgeldbeträgen, in denen es um Fälle schwerster Querschnittslähmung bei noch jungen Menschen ging, vertrat das Landgericht schließlich die Auffassung, dass die vorliegende langjährige Freiheitsentziehung zwar als weniger gravierend einzustufen sei. Jedoch könne mit Blick auf die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes nicht verkannt werden, dass vorliegend - anders als bei durch Verkehrsunfälle oder ärztliche Behandlungsfehler verursachten Beeinträchtigungen - über Jahre hinweg schuldhaft fehlerhaft agiert wurde und es nicht um ein einmaliges Fehlverhalten ging.
Den Betrag von 500.000 DM hielt das Gericht schließlich für ausreichend und angemessen, um dem Kläger einen Ausgleich für die erlittenen Beeinträchtigungen zu ermöglichen und zugleich ein deutliches Zeichen dafür zu setzen, dass er Unrecht erlitten hat.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 06.06.2016
Quelle: VersR 1995, 1199, ra-online (zt/we)