15.11.2024
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Dokument-Nr. 2590

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Beschluss06.06.2006Landgericht Braunschweig8 T 960/05, 8 T 961/05, 8 T 998/05
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Landgericht Braunschweig Beschluss06.06.2006

Einschließen von Gegen­de­mon­s­tranten durch Polizei war rechtswidrigRecht auf Versamm­lungs­freiheit wurde verletzt

Dies entschied das Landgericht Braunschweig aufgrund von Beschwerden von Personen, die auf dem Hagenmarkt in Braunschweig von Einsatzkräften der Polizei in einer Gruppe von ca. 250 Personen zwischen ca. 16.00 Uhr und 18.30 Uhr eingeschlossen worden waren, um den Ablauf der gerichtlich genehmigten NPD-Demonstration in der Innenstadt zu sichern.

Anders als die Polizei beurteilte die Beschwer­de­kammer die ca. 250 einge­schlossenen Gegen­de­mon­s­tranten nicht als bloße Ansammlung, sondern als Versammlung, die dem Grundrecht der Versamm­lungs­freiheit gemäß Art. 8 des Grundgesetzes unterfällt:

Die Menschenmenge auf dem Hagenmarkt wollte gemein­schaftlich an der öffentlichen Meinungsbildung teilhaben und gegen die NPD, deren politische Ansichten und deren Aufzug in der Braunschweiger Innenstadt demonstrieren. Dabei blieb dahingestellt, ob die Meinung­s­äu­ßerung auch verbal erfolgte, wofür eine gewisse Vermutung spricht. Da ca. 50 Personen im Bereich des Hagenmarktes auf der Straße gesessen haben, stellte bereits diese nonverbale Blockade eine von Art. 8 GG geschützte Ausdrucksform dar, welche ebenso wie Worte auf eine kollektive öffentliche Meinungs­kundgabe abzielte.

Die Kammer beurteilte das Verhalten der Gegen­de­mon­s­tranten nicht als unfriedlich, so dass der Grund­rechts­schutz entfallen würde. Das Versamm­lungs­gesetz behandelt nur Versammlungen mit gewalttätigem oder aufrührerischem Verlauf als unfriedlich. Straßen­blo­ckaden als passiver Widerstand kommen dafür nicht in Betracht. Aber auch die vereinzelten Flaschenwürfe aus der Menge machten die Versammlung noch nicht als Ganzes unfriedlich. Es gab wegen der Flaschenwürfe fünf Festnahmen und eine Strafanzeige gegen unbekannt. Diese geringe Anzahl der Flaschenwerfer aus einer Gruppe von mindestens 250 Personen kann nicht als kollektives Verhalten der ganzen Versammlung gewertet werden. Auch der Umstand, dass die Versammlung entgegen § 14 Versamm­lungs­gesetz nicht angemeldet war, lässt den Schutz von Art. 8 GG nicht entfallen; denn dieser schützt auch Spontan­ver­samm­lungen.

Vor der Ingewahr­samnahme der Gegen­de­mon­s­tranten durch Einschließen hätte es damit einer Auflösung der Versammlung gemäß § 15 Abs. 3 Versamm­lungs­gesetz bedurft. § 18 des Niedersächs. Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (NSOG), die Ingewahr­samnahme, auf welchen sich die Polizei stützte, komme als Rechtsgrundlage dagegen nicht in Betracht. Das Versamm­lungs­gesetz sperrt als Spezialgesetz den Rückgriff auf das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht. Wegen des Schutzes der Versamm­lungs­freiheit hätte es deshalb einer eindeutigen und unmiss­ver­ständ­lichen Auflö­sungs­ver­fügung bedurft, welche für die Betroffenen erkennbar zum Ausdruck hätte bringen müssen, dass die Versammlung aufgelöst ist. Daran fehlte es aber. Da die Polizei der Auffassung war, es habe sich bei dem Geschehen auf dem Hagenmarkt nicht um eine Versammlung gehandelt, hatte sie auch nicht den Willen, die nach dem Versamm­lungs­gesetz erforderliche Auflö­sungs­ver­fügung zu erlassen. Eine Auflö­sungs­ver­fügung hätte auch dem Willen der Polizei widersprochen, die Gegen­de­mon­s­tranten auf dem Hagenmarkt festzuhalten, um weitere Blockaden zu verhindern, da sie den Gegen­de­mon­s­tranten die Möglichkeit gegeben hätte, den Hagenmarkt zu verlassen. Dies hätte nach polizeilicher Prognose die Gefahr begründet, dass die Gegen­de­mon­s­tranten und die NPD-Demonstration aufein­an­der­treffen. Da es keine Auflö­sungs­ver­fügung gab, war die Rechts­wid­rigkeit der Ingewahr­samnahme festzustellen.

Erläuterungen
§ 15 Versamm­lungs­gesetz 

Abs. 1: 

Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. 

Abs. 3: 

Sie kann eine Versammlung oder einen Aufzug auflösen, wenn sie nicht angemeldet sind ... oder wenn die Voraussetzungen zu einem Verbot nach Absatz 1 oder 2 gegeben sind.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des LG Braunschweig vom 16.06.2006

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