18.10.2024
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Dokument-Nr. 6121

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Hessisches Landessozialgericht Urteil28.05.2008

Opferent­schä­digung nach Flucht durch Sturz aus dem FensterBei Freiheits­be­raubung ist eine Flucht aus dem Fenster nicht grob vernunftswidrig

Wird eine Person in ihrer Freiheit beraubt und flüchtet mangels Alternativen aus dem Fenster im dritten Obergeschoss, so kann eine Opferent­schä­digung für die bei dem Sturz erlittenen Schäden nicht wegen grob vernunft­wi­drigen Verhaltens versagt werden. Dies entschied das Landes­so­zi­al­gericht Darmstadt.

Im konkreten Fall war eine 1977 in Berlin geborene und in Neuseeland aufgewachsene Frau war nach Beendigung ihres Kunststudiums im Jahre 2000 nach Deutschland gereist. In Frankfurt lernte sie einen Mann kennen, der ihr Hoffnungen auf einen Job in der Filmbranche machte. Um hierfür ihre Chancen zu erhöhen, ließ sich die 23jährige Frau von ihm in seiner Wohnung nach dem gemeinsamen Genuss von Marihuana die Haare schneiden. Unzufrieden mit dem Resultat wollte sie einen Friseur aufsuchen, was der Mann jedoch nicht zuließ. Er schubste sie vielmehr wiederholt zurück in die Wohnung. Durch das Verhalten des Mannes beunruhigt kletterte sie aus dem Fenster und versuchte, Halt im zweiten Obergeschoss zu finden. Als dies misslang und sich der Täter erneut näherte, ließ sie sich auf das Dach der im Erdgeschoss befindlichen Passage fallen und verletzte sich hierbei erheblich. Im straf­ge­richt­lichen Verfahren wurde der 1950 geborene Mann wegen Freiheits­be­raubung zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt.

Eine Entschädigung der Verunglückten nach dem Opferent­schä­di­gungs­gesetz lehnte das Landes­ver­sor­gungsamt Hessen mit der Begründung ab, die Freiheits­be­raubung sei kein tätlicher Angriff, was die Sozialgerichte der ersten beiden Instanzen bestätigten. Das Bundes­so­zi­al­gericht urteilte hingegen, dass ein Angriff auf die körperliche Bewegungs­freiheit einer anderen Person jedenfalls dann als tätlicher Angriff im Sinne des Opferent­schä­di­gungs­rechts zu behandeln sei, wenn die Person mittels körperlicher Gewalt ihrer Freiheit beraubt oder dieser Zustand durch Tätlichkeiten aufrecht­er­halten werde.

Vom Landes­so­zi­al­gericht war nunmehr zu entscheiden, ob der Frau, die wieder in Neuseeland lebt, wegen grob vernunft­wi­drigen Verhaltens eine Entschädigung zu versagen ist. Dies vertrat das Versorgungsamt, das keine Anhaltspunkte für eine unmittelbar bevorstehende Gewalttat gesehen und auf die Kenntnis der Frau hinsichtlich der Gefähr-lichkeit ihres Handelns verwiesen hatte.

Anders haben dies die Darmstädter Richter beurteilt. Die fortdauernde Freiheits­be­raubung sei wesentlich für das Verhalten der Frau, die selbst keinen mindestens gleichwertigen Beitrag zum Sturz aus dem Fenster geleistet habe. Die eventuell entstandene Panik sei auf die Tat zurückzuführen. Auch sei die alters- und herkunfts­be­dingte Unerfahrenheit der Frau zu berücksichtigen. Der geringe Konsum von Marihuana und Alkohol sei hingegen nicht relevant. Ferner habe die Frau die Freiheits­be­raubung nicht weiter hinnehmen müssen, so dass die Flucht aus dem Fens-ter mangels einer Alternative nicht als grob vernunftwidrig einzustufen sei. Eine Entschädigung könne schließlich auch nicht mit der Begründung verweigert werden, die "Schutz- und Risiko­ge­mein­schaft redlicher Bürger" sei verlassen worden, was etwa bei Zugehörigkeit zu kriminellen Kreisen der Fall sei. Selbst ein unsolider Lebenswandel reiche hierfür nicht aus, weshalb hierzu auch keine Feststellungen zu treffen waren.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 17/08 des LSG Hessen vom 28.05.2008

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