21.11.2024
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Dokument-Nr. 4174

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Urteil27.04.2007Hamburgisches VerfassungsgerichtHVerfG 3/06, HVerfG 4/06
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Hamburgisches Verfassungsgericht Urteil27.04.2007

Hamburger Wahlgesetz teilweise verfas­sungs­widrigGesetzgeber muss Wahl der Wahlkreis­kan­didaten neu regeln

In dem Normen­kon­troll­ver­fahren von 58 Abgeordneten der Hamburgischen Bürgerschaft (Michael Neumann, Christa Goetsch u.a.) gegen Senat und Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (Az.: HVerfG 4/06) und in dem Organ­streit­ver­fahren der Volksinitiative „Mehr Bürgerrechte, ein neues Wahlrecht für Hamburg“ gegen die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (Az.: HVerfG 3/06) hat das Hamburgische Verfas­sungs­gericht seine Urteile verkündet.

Dem Antrag der Antragsteller im Normen­kon­troll­ver­fahren hat das Hamburgische Verfas­sungs­gericht nur teilweise stattgegeben (Ziffer 2.): Nur die mit dem neuen Wahlrecht geschaffene Relevanz­schwelle für die Wahlkreis­kan­didaten bei der Bürger­schaftswahl ist verfas­sungs­widrig. Demgegenüber ist das Gesetz zur Änderung des Wahlrechts nicht in seiner Gesamtheit wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Organtreue verfas­sungs­widrig.

Den Antrag der Volksinitiative im Organ­streit­ver­fahren hat das Hamburgische Verfas­sungs­gericht wegen fehlender Parteifähigkeit der Volksinitiative als unzulässig zurückgewiesen (Ziffer 3.).

1. Gegenstand der Verfahren

Gegenstand beider Verfahren war die Änderung des Wahlrechts für die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft und für die Wahl zu den Bezirks­ver­samm­lungen durch Änderungsgesetz vom 19. Oktober 2006.

Dabei ging es zum einen um die Frage, ob die Bürgerschaft in der laufenden Wahlperiode berechtigt war, ein Gesetz zu beschließen, mit dem das im Wege eines Volks­ent­scheides 2004 beschlossene Wahlrecht geändert wird. Die Antragsteller im Normen­kon­troll­ver­fahren und die Antragstellerin im Organ­streit­ver­fahren haben sich darauf berufen, dass die Bürgerschaft den ungeschriebenen verfas­sungs­recht­lichen Grundsatz der Organtreue gegenüber der Volksinitiative bzw. dem Volks­ge­setzgeber verletzt habe, weil die wesentlichen Elemente des volks­be­schlossenen Wahlrechts ohne eine sachliche und hinreichend nachvoll­ziehbare Abwägung wieder beseitigt worden seien.

Darüber hinaus war die Verfas­sungs­mä­ßigkeit einzelner Bestimmungen des von der Bürgerschaft beschlossenen Gesetzes zur Änderung des Wahlrechts strittig.

Dazu gehörte insbesondere die Einführung der so genannten Relevanz­schwelle (§ 4 Abs. 3 des Wahlgesetzes). Danach können Kandidaten in den Wahlkreisen nur dann abweichend von der Reihenfolge der Wahlkreisliste einen Sitz bekommen, wenn diese jeweils mehr Persön­lich­keits­s­timmen erhalten haben als 30 vom Hundert der Wahlzahl (Quotient aus der Zahl der insgesamt im Wahlkreis abgegebenen gültigen Wahlkreiss­timmen und der Zahl der im Wahlkreis zu vergebenden Sitze).

Des Weiteren wurde die Fünfpro­zent­klausel für die Wahl zu den Bezirks­ver­samm­lungen wieder eingeführt.

2. Urteil im Normen­kon­troll­ver­fahren: Relevanz­schwelle verfas­sungs­widrig

Der Präsident des Hamburgischen Verfas­sungs­ge­richts Wilhelm Rapp führte in der mündlichen Urteils­be­gründung zum Normen­kon­troll­ver­fahren (Az.: HVerfG 4/06) aus:

Das Gesetz zur Änderung des Wahlrechts sei nicht in seiner Gesamtheit nichtig. Eine Verletzung der aus dem Grundsatz der Organtreue folgenden Pflichten der Bürgerschaft gegenüber dem Volks­ge­setzgeber sei nicht festzustellen. Die parla­men­ta­rischen Diskussions- und Abstim­mungs­prozesse seien in der Bürgerschaft durchgeführt worden. Dabei lägen hinreichende abwägende Ausführungen vor, nach denen die Bürgerschaft sich mit dem volks­be­schlossenen Wahlrecht in der Sache ausein­an­der­gesetzt und den Volkswillen berücksichtigt habe. Eine Bewertung der von der Bürgerschaft getroffenen Entscheidung selbst sei hingegen nicht Sache des Verfas­sungs­ge­richts, sondern der politischen Willensbildung vorbehalten.

Nur die mit dem Gesetz zur Änderung des Wahlrechts eingefügte Relevanz­schwelle für die Personenwahl der Wahlkreis­kan­didaten bei der Bürger­schaftswahl sei verfas­sungs­widrig. Zwar sei die Regelung mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit nach Art. 6 Abs. 2 Hamburgische Verfassung (HV) zu vereinbaren. Es handele sich um eine zulässige Ausgestaltung eines Wahlsystems mit nur eingeschränkt offenen Wahlkreislisten. Die Regelung verstoße jedoch gegen das rechts­s­taatliche Gebot der Normenklarheit nach Art. 3 Abs. 1 HV. Das Gebot der Normenklarheit fordere, dass die von einer gesetzlichen Regelung Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einzurichten vermögen. Dies gelte in besonderem Maße für Wahlrechts­re­ge­lungen. Der Wähler müsse vor dem Wahlakt erkennen können, wie sich die Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken könne. Die Relevanz­schwelle stelle für die Möglichkeit, die Listen­rei­henfolge durch Persön­lich­keits­s­timmen zu verändern, eine Hürde dar, die zwar theoretisch und auch faktisch überschritten werden könne. Die Relevanz­schwelle sei jedoch derart hoch, dass für deren Überschreiten in sehr weitreichendem Umfang Stimmen­häu­fungen auf einen Kandidaten erforderlich seien. Damit spiegelten die nach dem Wahlgesetz eröffneten Handlungs­mög­lich­keiten des Kumulierens und Panaschierens von Persön­lich­keits­s­timmen dem Wähler ein falsches Bild vor: Er könne nicht erkennen, dass diese Handlungs­mög­lich­keiten wegen der Höhe der Relevanz­schwelle eher theoretischer Natur seien. Dadurch würden die Handlungs­mög­lich­keiten des Wählers intransparent.

Darüber hinaus sei die Regelung auch für den Wähler, der seine Wahlkreiss­timmen als Listenstimmen an Wahlkreislisten in ihrer Gesamtheit gebe, nicht hinreichend klar, weil die Listenstimmen keinen Einfluss auf die Listen­rei­henfolge hätten.

Das Gericht weise darauf hin, dass auch nach dem volks­be­schlossenen Wahlrecht die Listenstimmen keinen Einfluss auf die Listen­rei­henfolge hätten und das volks­be­schlossene Wahlrecht daher in diesem Punkt ebenfalls nicht hinreichend klar sei. Es bleibe daher Aufgabe des Gesetzgebers, für eine verfas­sungs­gemäße Regelung zu sorgen, die der Normenklarheit genüge. In Ansehung sowohl der bereits laufenden Wahlvor­be­rei­tungen als auch der sonst drohenden Wahlan­fech­tungen werde der Gesetzgeber diese Aufgabe schnellst­möglich zu erfüllen haben.

Die Fünfpro­zent­klausel für die Wahl zu den Bezirks­ver­samm­lungen sei verfas­sungsgemäß. Die für die Zulässigkeit einer Fünfpro­zent­klausel maßgeblichen Verhältnisse hätten sich nicht maßgeblich geändert.

3. Urteil im Organ­streit­ver­fahren: Antrag der Volksinitiative unzulässig

Der Präsident des Hamburgischen Verfas­sungs­ge­richts führte in der mündlichen Urteils­be­gründung zum Organ­streit­ver­fahren (Az.: HVerfG 3/06) aus:

Die Volksinitiative sei nach Abschluss des Volks­ge­setz­ge­bungs­ver­fahrens nicht mehr parteifähig. Das Geset­ze­s­i­n­i­tia­ti­vrecht der Volksinitiative sei mit der Verkündung des Volks­wahl­ge­setzes umgesetzt und das Volks­ge­setz­ge­bungs­ver­fahren damit abgeschlossen worden. Weitergehende verfas­sungs­rechtliche Kompetenzen als diejenigen, die der Durchführung des Volks­ge­setz­ge­bungs­ver­fahrens bis zu dessen Abschluss dienten, würden der Volksinitiative durch Art. 50 HV nicht gewährt. Mangels aktuell vorhandener verfas­sungs­recht­licher Kompetenzen könne die Volksinitiative daher eine Verletzung des Grundsatzes der Organtreue nicht rügen.

4. Keine Einstimmigkeit

Beide Urteile sind nicht einstimmig ergangen.

Dem Urteil im Normen­kon­troll­ver­fahren ist eine abweichende Meinung beigefügt, in der zwei Mitglieder des Verfas­sungs­ge­richts ausführen, dass die Bürgerschaft die aus dem Grundsatz der Organtreue folgenden Pflichten der Ausein­an­der­setzung und Berück­sich­tigung im Hinblick auf das volks­be­schlossene Wahlgesetz verletzt habe.

Dem Urteil im Organ­streit­ver­fahren ist eine abweichende Meinung beigefügt, in der zwei Mitglieder des Verfas­sungs­ge­richts ausführen, dass sie die Parteifähigkeit der Volksinitiative aus Gründen der Rechts­schutz­ge­währung bejahen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des Hamburgischen Verassungsgerichts vom 27.04.2007

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