Europäischer Gerichtshof Urteil11.09.2025
Verbot der Doppelbestrafung gilt auch bei rechtlich unterschiedlicher Einordnung der Strafttat im jeweiligen EU-Mitgliedsstaat
Eine Person darf in einem Mitgliedstaat nicht für einen Terrorakt strafrechtlich verfolgt werden, für den sie in einem anderen Mitgliedstaat bereits verurteilt wurde, selbst wenn die rechtliche Einordnung des Tatbestands dort eine andere ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden.
Am 4. September 2019 wurde eine Anführerin der Terrororganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA) an die spanischen Behörden übergeben. Die Übergabe erfolgte in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, den das spanische Zentrale Ermittlungsgericht im Rahmen eines Strafverfahrens wegen eines am 21. Juli 1997 auf die Polizeidienststelle von Oviedo (Spanien) verübten Terrorattentats ausgestellt hatte. Die Angeklagte soll von Frankreich aus terroristische Sachbeschädigungen, versuchte terroristische Morde sowie Körperverletzungen begangen haben. Sie hat eine Freiheitsstrafe von 30 Jahren zu erwarten.
Allerdings hat sie in Frankreich bereits eine Freiheitsstrafe von 20 Jahren verbüßt. Nach spanischem Recht darf keine Gesamtstrafe aus den von den französischen und den von spanischen Gerichten ausgesprochenen Verurteilungen gebildet werden. Die Angeklagte müsste daher insgesamt mindestens 50 Jahre Freiheitsstrafe verbüßen, ohne dass eine Vollstreckungsobergrenze festgesetzt werden kann.
Nach Auffassung des spanischen Nationalen Gerichtshofs betreffen die Ermittlungen in Spanien dieselben Handlungen wie die französischen Urteile. Er stellte daher in einem Urteil aus dem Jahr 2021 fest, dass eine „Doppelbestrafungskonstellation“ vorliege. Dieses Urteil wurde jedoch vom spanischen Obersten Gerichtshof mit Urteil vom 21. März 2023 aufgehoben. Dieser verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück an den Nationalen Gerichtshof, der in Anbetracht der abweichenden Auslegung beschloss, den Gerichtshof anzurufen.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Begriff „dieselbe Tat“ nur auf die tatsächliche Handlung abstellt, so dass unterschiedliche rechtliche Qualifizierungen derselben Handlung in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten oder die Verfolgung unterschiedlicher rechtlicher Interessen in diesen Staaten der Anwendung des Verbots der Doppelbestrafung nicht entgegenstehen.
Die Prüfung, ob es sich bei den Taten, die Gegenstand des spanischen Strafverfahrens sind, um dieselben handelt wie diejenigen, die von den französischen Gerichten rechtskräftig abgeurteilt wurden, obliegt dem spanischen Nationalen Gerichtshof. Der Gerichtshof präzisiert jedoch, dass der Begriff „dieselbe Tat“ die Taten umfasst, die einer Person im Rahmen eines Strafverfahrens wegen terroristischer Handlungen in einem Mitgliedstaat zur Last gelegt werden, wenn diese Person für dieselben Handlungen bereits in einem anderen Mitgliedstaat wegen der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung zur Vorbereitung einer terroristischen Handlung verurteilt wurde.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 12.09.2025
Quelle: Europäischer Gerichtshof, ra-online (pm/pt)