21.11.2024
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Dokument-Nr. 16095

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil18.06.2013

Kartel­ab­sprachen: Unternehmen kann auch bei Irrtum über eigene Zuwider­hand­lungen mit Geldbuße belegt werdenAuch Rechtsrat einer Anwaltskanzlei schützt Unternehmen nicht vor Wettbewerbs­widrigkeiten seines Handelns

Ein Unternehmen ist durch den Rechtsrat einer Anwaltskanzlei oder eine Entscheidung einer nationalen Wettbe­wer­bs­behörde nicht vor Wettbewerbs­widrigkeiten seines Handelns und der Verhängung einer Geldbuße geschützt. Hat das Unternehmen, das die Zuwiderhandlung begangen hat, an einem nationalen Kronzeu­gen­programm teilgenommen, dürfen die nationalen Wettbe­wer­bs­be­hörden nur in Ausnahmefällen von der Verhängung einer Geldbuße absehen. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Im zugrunde liegenden Fall waren die Schenker & Co AG und 30 weitere Gesellschaften Mitglieder der öster­rei­chischen Spediteurs-Sammelladungs-Konferenz (SSK), einer Inter­es­sen­ge­mein­schaft eines Teils der Mitglieder des Zentra­l­ver­bandes der Spediteure. Letzterer war eine Inter­es­sen­ver­tretung für Spediteure und Logis­tik­dienst­leister mit Spedi­ti­o­ns­kon­zession.

Hintergrund

Die SSK wurde 1994 als Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegründet, aufschiebend bedingt mit der Genehmigung durch das in Österreich für Kartellsachen zuständige Gericht (Kartellgericht). Sie verfolgte den Zweck, der Verladerschaft und den Letzt­ver­brauchern die Einräumung von günstigeren Auto-/Bahn-Sammel­la­dungs­sätzen zu ermöglichen. Durch Schaffung gleicher Wettbe­wer­bs­be­din­gungen sollte der lautere Wettbewerb unter ihren Mitgliedern gefördert werden.

Kartellgericht: SSK ist Bagatellkartell im Sinne des öster­rei­chischen Rechts

Im Jahr 1996 entschied das Kartellgericht, dass die SSK ein Bagatellkartell im Sinne des öster­rei­chischen Rechts darstelle. Eine auf Kartellrecht spezialisierte österreichische Anwaltskanzlei, die als Beraterin herangezogen wurde, vertrat ebenfalls die Auffassung, dass es sich bei der SSK um ein Bagatellkartell und somit nicht um ein verbotenes Kartell handele.

Am 11. Oktober 2007 gab die Kommission bekannt, dass ihre Bediensteten unangekündigte Nachprüfungen in den Geschäftsräumen verschiedener Anbieter von internationalen Spedi­ti­o­ns­dienst­leis­tungen durchgeführt hätten und dass sie Grund zu der Annahme habe, dass die betreffenden Unternehmen Bestimmungen des Unionsrechts verletzt haben könnten, die wettbe­wer­bs­be­schränkende Geschäft­s­praktiken verböten.

Nationales Gericht verneint Erheben eines Verschul­dens­vor­wurfes wegen Preis­ab­stim­mungen

Das Oberlan­des­gericht Wien vertrat die Auffassung, dass gegen die fraglichen Unternehmen wegen der Abstimmung der Preise kein Verschul­dens­vorwurf zu erheben sei; sie hätten sich auf einen Beschluss des Kartellgerichts gestützt, mit dem festgestellt worden sei, dass ihre Vereinbarung ein Bagatellkartell darstelle. Das Verhalten der SSK habe sich nicht auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten ausgewirkt, und es liege keine Zuwiderhandlung gegen das Unionsrecht vor. Den betreffenden Unternehmen sei auch deshalb kein Verschul­dens­vorwurf zu machen, weil sie vorab Rechtsrat über die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens bei einer Anwaltskanzlei eingeholt hätten.

Bundes­wett­be­wer­bs­behörde beantragt Feststellung einer Zuwiderhandlung der Schenker & Co AG gegen das Unionsrecht

Bei der Schenker & Co AG, die einen Kronzeu­ge­n­antrag gestellt und im Unter­su­chungs­ver­fahren mit der Verwaltung zusam­men­ge­ar­beitet hatte, hatte die Bundes­wett­be­wer­bs­behörde die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen das Unionsrecht und gegen das österreichische Kartellrecht ohne Verhängung einer Geldbuße beantragt. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgewiesen, nur die Kommission könne Zuwider­hand­lungen feststellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen.

Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH über mögliche Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbe­wer­bsrecht ohne Festsetzung einer Geldbuße

Der mit dem Rechtsstreit befasste Oberste Gerichtshof hat dem Gerichtshof zwei Fragen zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt. Er möchte zunächst wissen, ob ein Unternehmen, das gegen das Wettbe­wer­bsrecht der Union verstoßen hat, der Verhängung einer Geldbuße entgehen kann, wenn der Zuwiderhandlung ein Irrtum dieses Unternehmens über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens zugrunde liegt, der auf dem Inhalt eines Rechtsrats eines Anwalts oder einer Entscheidung einer nationalen Wettbe­wer­bs­behörde beruht. Die zweite Vorlagefrage geht dahin, ob die nationalen Wettbe­wer­bs­be­hörden, wenn ein Unternehmen an einem nationalen Kronzeu­gen­programm teilgenommen hat, eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbe­wer­bsrecht feststellen können, ohne eine Geldbuße festzusetzen.

Unternehmen kann durch Rechtsrat eines Anwalts nicht auf einwandfreies wettbe­wer­bs­recht­liches Verhalten vertrauen

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass die Tatsache, dass ein Unternehmen sein Verhalten rechtlich unrichtig eingestuft hat, nur in Ausnahmefällen dazu führen kann, dass ihm keine Geldbuße auferlegt wird, z. B. dann, wenn ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts wie der Grundsatz des Vertrau­ens­schutzes der Verhängung einer solchen Geldbuße entgegensteht. Allerdings kann niemand eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrau­ens­schutzes geltend machen, dem die zuständige Verwaltung keine präzisen Zusicherungen gegeben hat. Der Rechtsrat eines Anwalts kann bei einem Unternehmen mithin auf keinen Fall ein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, dass sein Verhalten nicht gegen das Wettbe­wer­bsrecht der Union verstößt oder nicht zur Verhängung einer Geldbuße führt.

Verhalten der Unternehmen wurde durch Wettbe­wer­bs­behörde allein nach nationalem Wettbe­wer­bsrecht geprüft

Da die nationalen Wettbe­wer­bs­be­hörden nicht befugt sind, eine Entscheidung zu erlassen, mit der das Fehlen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht festgestellt wird, können sie bei Unternehmen kein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, dass ihr Verhalten nicht gegen die Wettbe­wer­bs­regeln verstößt. Im Übrigen hatte im vorliegenden Fall die nationale Wettbe­wer­bs­behörde das Verhalten der Unternehmen allein nach nationalem Wettbe­wer­bsrecht geprüft.

Unternehmen kann auch bei irrtümlicher Zuwiderhandlung Verhängung einer Geldbuße nicht entgehen

Daher entscheidet der Gerichtshof, dass das Wettbe­wer­bsrecht der Union dahin auszulegen ist, dass ein Unternehmen, das dagegen verstoßen hat, nicht der Verhängung einer Geldbuße entgehen kann, wenn der Zuwiderhandlung ein Irrtum dieses Unternehmens über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens zugrunde liegt, der auf dem Inhalt eines Rechtsrats eines Anwalts oder einer Entscheidung einer nationalen Wettbe­wer­bs­behörde beruht.

Absehen von der Verhängung einer Geldbuße im Rahmen eines nationalen Kronzeu­gen­pro­gramms nur in Ausnahmen möglich

Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Unionsrecht eine Befugnis der nationalen Wettbe­wer­bs­be­hörden zur Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen die europäischen Wettbe­wer­bs­regeln ohne Verhängung einer Geldbuße zwar nicht ausdrücklich vorsieht, sie aber auch nicht ausschließt. Der Gerichtshof führt hierzu weiter aus, dass im Rahmen eines nationalen Kronzeu­gen­pro­gramms von der Verhängung einer Geldbuße nur abgesehen werden kann, wenn es so durchgeführt wird, dass das Erfordernis der wirksamen und einheitlichen Anwendung des Wettbe­wer­bs­rechts der Union nicht beeinträchtigt wird.

Ermäßigung von Geldbußen nur in speziellen Einzelfällen gerechtfertigt

In Bezug auf die Befugnis der Kommission zur Ermäßigung von Geldbußen im Rahmen ihres eigenen Kronzeu­gen­pro­gramms stellt der Gerichtshof fest, dass die Ermäßigung einer Geldbuße im Fall einer Zusammenarbeit von Unternehmen, die an Zuwider­hand­lungen gegen das Wettbe­wer­bsrecht der Union beteiligt sind, nur gerechtfertigt ist, wenn eine solche Zusammenarbeit die Aufgabe der Kommission erleichtert. Das Verhalten des Unternehmens muss auch von einem wirklichen Geist der Zusammenarbeit zeugen. Schließlich darf, damit die wirksame und einheitliche Anwendung des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird, die Immunität oder die Nicht­fest­setzung einer Geldbuße nur unter ganz besonderen Umständen gewährt werden, z. B., wenn die Zusammenarbeit eines Unternehmens für die Aufdeckung und wirksame Ahndung des Kartells von entscheidender Bedeutung war.

Nationale Wettbe­wer­bs­be­hör­den­dürfen in Ausnahmefällen Zuwiderhandlung feststellen, ohne Geldbuße zu verhängen

Daher entscheidet der Gerichtshof, dass sich die nationalen Wettbe­wer­bs­be­hörden, wenn das betreffende Unternehmen an einem nationalen Kronzeu­gen­programm teilgenommen hat, in Ausnahmefällen darauf beschränken können, eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbe­wer­bs­regeln festzustellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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