Im zugrunde liegenden Fall waren die Schenker & Co AG und 30 weitere Gesellschaften Mitglieder der österreichischen Spediteurs-Sammelladungs-Konferenz (SSK), einer Interessengemeinschaft eines Teils der Mitglieder des Zentralverbandes der Spediteure. Letzterer war eine Interessenvertretung für Spediteure und Logistikdienstleister mit Speditionskonzession.
Die SSK wurde 1994 als Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegründet, aufschiebend bedingt mit der Genehmigung durch das in Österreich für Kartellsachen zuständige Gericht (Kartellgericht). Sie verfolgte den Zweck, der Verladerschaft und den Letztverbrauchern die Einräumung von günstigeren Auto-/Bahn-Sammelladungssätzen zu ermöglichen. Durch Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen sollte der lautere Wettbewerb unter ihren Mitgliedern gefördert werden.
Im Jahr 1996 entschied das Kartellgericht, dass die SSK ein Bagatellkartell im Sinne des österreichischen Rechts darstelle. Eine auf Kartellrecht spezialisierte österreichische Anwaltskanzlei, die als Beraterin herangezogen wurde, vertrat ebenfalls die Auffassung, dass es sich bei der SSK um ein Bagatellkartell und somit nicht um ein verbotenes Kartell handele.
Am 11. Oktober 2007 gab die Kommission bekannt, dass ihre Bediensteten unangekündigte Nachprüfungen in den Geschäftsräumen verschiedener Anbieter von internationalen Speditionsdienstleistungen durchgeführt hätten und dass sie Grund zu der Annahme habe, dass die betreffenden Unternehmen Bestimmungen des Unionsrechts verletzt haben könnten, die wettbewerbsbeschränkende Geschäftspraktiken verböten.
Das Oberlandesgericht Wien vertrat die Auffassung, dass gegen die fraglichen Unternehmen wegen der Abstimmung der Preise kein Verschuldensvorwurf zu erheben sei; sie hätten sich auf einen Beschluss des Kartellgerichts gestützt, mit dem festgestellt worden sei, dass ihre Vereinbarung ein Bagatellkartell darstelle. Das Verhalten der SSK habe sich nicht auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten ausgewirkt, und es liege keine Zuwiderhandlung gegen das Unionsrecht vor. Den betreffenden Unternehmen sei auch deshalb kein Verschuldensvorwurf zu machen, weil sie vorab Rechtsrat über die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens bei einer Anwaltskanzlei eingeholt hätten.
Bei der Schenker & Co AG, die einen Kronzeugenantrag gestellt und im Untersuchungsverfahren mit der Verwaltung zusammengearbeitet hatte, hatte die Bundeswettbewerbsbehörde die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen das Unionsrecht und gegen das österreichische Kartellrecht ohne Verhängung einer Geldbuße beantragt. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgewiesen, nur die Kommission könne Zuwiderhandlungen feststellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen.
Der mit dem Rechtsstreit befasste Oberste Gerichtshof hat dem Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Er möchte zunächst wissen, ob ein Unternehmen, das gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstoßen hat, der Verhängung einer Geldbuße entgehen kann, wenn der Zuwiderhandlung ein Irrtum dieses Unternehmens über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens zugrunde liegt, der auf dem Inhalt eines Rechtsrats eines Anwalts oder einer Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde beruht. Die zweite Vorlagefrage geht dahin, ob die nationalen Wettbewerbsbehörden, wenn ein Unternehmen an einem nationalen Kronzeugenprogramm teilgenommen hat, eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht feststellen können, ohne eine Geldbuße festzusetzen.
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass die Tatsache, dass ein Unternehmen sein Verhalten rechtlich unrichtig eingestuft hat, nur in Ausnahmefällen dazu führen kann, dass ihm keine Geldbuße auferlegt wird, z. B. dann, wenn ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts wie der Grundsatz des Vertrauensschutzes der Verhängung einer solchen Geldbuße entgegensteht. Allerdings kann niemand eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes geltend machen, dem die zuständige Verwaltung keine präzisen Zusicherungen gegeben hat. Der Rechtsrat eines Anwalts kann bei einem Unternehmen mithin auf keinen Fall ein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, dass sein Verhalten nicht gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstößt oder nicht zur Verhängung einer Geldbuße führt.
Da die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht befugt sind, eine Entscheidung zu erlassen, mit der das Fehlen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht festgestellt wird, können sie bei Unternehmen kein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, dass ihr Verhalten nicht gegen die Wettbewerbsregeln verstößt. Im Übrigen hatte im vorliegenden Fall die nationale Wettbewerbsbehörde das Verhalten der Unternehmen allein nach nationalem Wettbewerbsrecht geprüft.
Daher entscheidet der Gerichtshof, dass das Wettbewerbsrecht der Union dahin auszulegen ist, dass ein Unternehmen, das dagegen verstoßen hat, nicht der Verhängung einer Geldbuße entgehen kann, wenn der Zuwiderhandlung ein Irrtum dieses Unternehmens über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens zugrunde liegt, der auf dem Inhalt eines Rechtsrats eines Anwalts oder einer Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde beruht.
Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Unionsrecht eine Befugnis der nationalen Wettbewerbsbehörden zur Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen die europäischen Wettbewerbsregeln ohne Verhängung einer Geldbuße zwar nicht ausdrücklich vorsieht, sie aber auch nicht ausschließt. Der Gerichtshof führt hierzu weiter aus, dass im Rahmen eines nationalen Kronzeugenprogramms von der Verhängung einer Geldbuße nur abgesehen werden kann, wenn es so durchgeführt wird, dass das Erfordernis der wirksamen und einheitlichen Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union nicht beeinträchtigt wird.
In Bezug auf die Befugnis der Kommission zur Ermäßigung von Geldbußen im Rahmen ihres eigenen Kronzeugenprogramms stellt der Gerichtshof fest, dass die Ermäßigung einer Geldbuße im Fall einer Zusammenarbeit von Unternehmen, die an Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht der Union beteiligt sind, nur gerechtfertigt ist, wenn eine solche Zusammenarbeit die Aufgabe der Kommission erleichtert. Das Verhalten des Unternehmens muss auch von einem wirklichen Geist der Zusammenarbeit zeugen. Schließlich darf, damit die wirksame und einheitliche Anwendung des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird, die Immunität oder die Nichtfestsetzung einer Geldbuße nur unter ganz besonderen Umständen gewährt werden, z. B., wenn die Zusammenarbeit eines Unternehmens für die Aufdeckung und wirksame Ahndung des Kartells von entscheidender Bedeutung war.
Daher entscheidet der Gerichtshof, dass sich die nationalen Wettbewerbsbehörden, wenn das betreffende Unternehmen an einem nationalen Kronzeugenprogramm teilgenommen hat, in Ausnahmefällen darauf beschränken können, eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln festzustellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 19.06.2013
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online