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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil22.05.2008
EU-Bürger müssen nicht im Inland wohnen, um Invaliditätsrente zu erhaltenUnverhältnismäßige Einschränkung der Freizügigkeit
Die Zahlung einer Invaliditätsrente, die ein Mitgliedstaat zivilen Kriegs- oder Repressionsopfern gewährt, darf nicht allein deshalb verweigert werden, weil der Berechtigte in einem anderen Mitgliedstaat wohnt. Das Erfordernis des Wohnsitzes im Inland, wie es in der polnischen Regelung vorgesehen ist, ist unverhältnismäßig. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden.
Frau Nerkowska, die die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde 1946 im Gebiet des heutigen Weißrussland geboren. Nach dem Verlust ihrer Eltern, die kraft eines Gerichtsurteils nach Sibirien deportiert wurden, wurde sie selbst 1951 in die ehemalige UdSSR deportiert, wo sie unter schwierigen Bedingungen lebte. 1957 kehrte sie nach Polen zurück. 1985 verließ sie Polen und ließ sich dauerhaft in Deutschland nieder.
Polnische Sozialversicherung will Rente nur auszahlen, wenn der Wohnsitz in Polen ist
Der Zaklad Ubezpieczen Spolecznych Oddzial w Koszalinie (Sozialversicherungsanstalt, Dienststelle Koszalin) verweigerte Frau Nerkowska mit der Begründung, dass sie nicht in Polen wohne, die Zahlung einer ihr zuvor zuerkannten Rente für die Gesundheitsschäden, die sie während der Deportation erlitten hatte.
Polnisches Gericht ruft EuGH an
Frau Nerkowska hat gegen den entsprechenden Bescheid bei einem polnischen Gericht Klage erhoben und macht geltend, dass ihr gegenwärtiger Wohnsitz angesichts des Beitritts der Republik Polen zur Union kein Hinderungsgrund für die Zahlung dieser Leistung sein dürfe. Das mit der Rechtssache befasste Sad Okregowy w Koszalinie (Bezirksgericht Koszalin) möchte vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wissen, ob das den Bürgern der Europäischen Union im EG-Vertrag garantierte Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, einer nationalen Regelung wie der polnischen entgegensteht, die die Zahlung einer zivilen Kriegs- oder Repressionsopfern gewährten Leistung davon abhängig macht, dass der Berechtigte im Inland wohnt.
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass eine Leistung, deren Zweck in der Entschädigung ziviler Kriegs- oder Repressionsopfer für eine von ihnen erlittene psychische oder körperliche Beschädigung besteht, beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Diese müssen von dieser Zuständigkeit jedoch unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Vertragsbestimmungen über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen.
EuGH: Polnische Regelung verstößt gegen die Freizügigkeit
Sodann betont der Gerichtshof, dass die von dem Vertrag eröffneten Erleichterungen der Freizügigkeit ihre volle Wirkung nicht entfalten könnten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die eine Regelung seines Herkunftsstaats dadurch aufstellt, dass sie Nachteile daran knüpft, dass er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat. Folglich stellt die polnische Regelung, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, eine Beschränkung der Freiheiten dar, die der EG-Vertrag jedem Unionsbürger verleiht. Eine solche Beschränkung der Ausübung der Freiheiten durch die eigenen Staatsangehörigen lässt sich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht. Als objektive Erwägungen des Allgemeininteresses, die die fragliche Beschränkung rechtfertigen können, sieht der Gerichtshof dementsprechend sowohl den Willen an, die Existenz einer Verbindung zwischen der Gesellschaft des betroffenen Mitgliedstaats und dem Empfänger einer Leistung sicherzustellen, als auch die Notwendigkeit, zu überprüfen, dass dieser weiterhin die Voraussetzungen für den Bezug der Leistung erfüllt.
Allerdings kann der Umstand, dass der Betroffene zum einen die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats besitzt, der die in Rede stehende Leistung gewährt, und zum anderen mehr als 20 Jahre lang in diesem Staat gelebt hat, ausreichen, um Verbindungen zwischen diesem Staat und dem Empfänger der genannten Leistung zu belegen. Unter diesen Umständen ist das Erfordernis eines Wohnsitzes während der gesamten Dauer des Leistungsbezugs als unverhältnismäßig anzusehen, da es über das hinausgeht, was erforderlich ist, um eine solche Verbindung zu gewährleisten.
Außerdem lässt sich das Ziel, zu überprüfen, dass der Empfänger einer Invaliditätsrente weiterhin die Voraussetzungen für ihren Bezug erfüllt, durch andere Mittel erreichen, die weniger restriktiv, aber genauso wirksam sind.
Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass das Gemeinschaftsrecht einer Regelung wie der im vorliegenden Fall in Rede stehenden polnischen Regelung entgegensteht.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 23.05.2008
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 33/08 des EuGH vom 22.05.2008
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