15.11.2024
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Dokument-Nr. 9258

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Urteil23.02.2010Gerichtshof der Europäischen UnionC-310/08 und C-480/08
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil23.02.2010

EuGH zum Aufent­haltsrecht eines Kindes von Wander­a­r­beit­nehmern während der Ausbildung im Aufnah­me­mit­gliedstaatKind hat unabhängig von finanzieller Situation des sorgenden Elternteils Anspruch auf Gewährung des Aufent­halts­rechts

Ein Elternteil, der die elterliche Sorge für ein Kind eines Wander­a­r­beit­nehmers wahrnimmt, das im Aufnah­me­mit­gliedstaat seine Ausbildung fortsetzt, hat ein Recht auf Aufenthalt in diesem Staat. Dieses Recht setzt nicht voraus, dass der Elternteil über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er keine Sozia­l­hil­fe­leis­tungen in Anspruch nehmen muss. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften entschieden.

Die Gemein­schafts­ver­ordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sah vor, dass die Familien­an­ge­hörigen eines Arbeitnehmers, der die Staats­an­ge­hö­rigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, ungeachtet ihrer Staats­an­ge­hö­rigkeit bei diesem Arbeitnehmer Wohnung nehmen dürfen (Art. 10). Sie bestimmt auch, dass die Kinder eines solchen Arbeitnehmers, wenn sie im Hoheitsgebiet des Aufnah­me­mit­glied­staats wohnen, am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufs­aus­bildung teilnehmen können (Art. 12).

Hintergrund

Im seinem Urteil im Fall Baumbast vom 17. September 2002 (AZ C-413/99) hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese Vorschrift dahin auszulegen ist, dass das Kind eines Wander­a­r­beit­nehmers, das seine Ausbildung im Aufnah­me­mit­gliedstaat fortsetzen möchte, ein Aufent­haltsrecht hat, auch wenn der Wander­a­r­beit­nehmer dort nicht mehr selbst wohnt oder arbeitet. Dieses Aufent­haltsrecht erstreckt sich auch auf den Elternteil, der die elterliche Sorge für dieses Kind tatsächlich wahrnimmt.

Aufent­haltsrecht des Kindes durch Wegzug oder Tod des Unionsbürgers nicht berührt

Durch die Richtlinie über die Freizügigkeit der Unionsbürger wurden diese Verordnung geändert und mehrere ältere Rechtsakte über die Freizügigkeit der Bürger ersetzt. Sie sieht vor, dass jeder Bürger das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, wenn er Arbeitnehmer oder Student ist oder über einen umfassenden Kranken­ver­si­che­rungs­schutz und ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er keine Sozia­l­hil­fe­leis­tungen in Anspruch nehmen muss. Durch sie wurde Art. 10 der Verordnung, der das Aufent­haltsrecht der Familien­an­ge­hörigen eines Wander­a­r­beit­nehmers regelt, aufgehoben und durch ein Aufent­haltsrecht für die Familien­an­ge­hörigen von Bürgern ersetzt, die die Aufent­halts­vor­aus­set­zungen erfüllen. Dagegen wurde Art. 12 der Verordnung nicht aufgehoben, der das Recht auf Zugang zum Bildungssystem betrifft. Die Richtlinie sieht auch vor, dass das Aufent­haltsrecht eines Kindes, das in einer Bildungs­ein­richtung zu Ausbil­dungs­zwecken eingeschrieben ist, oder dasjenige des Elternteils, der die elterliche Sorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt, durch den Wegzug oder den Tod des Unionsbürgers nicht berührt wird.

Berufungs­gericht legt Fragen zum Aufent­haltsrecht dem EuGH vor

Der Court of Appeal (Berufungs­gericht, Vereinigtes Königreich), bei dem beide Rechtssachen anhängig sind, möchte vom Gerichtshof wissen, ob die im Urteil Baumbast vertretene Auslegung von Art. 12 der Verordnung nach dem Inkrafttreten der genannten Richtlinie noch gilt und ob das Aufent­haltsrecht zugunsten desjenigen, der die elterliche Sorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt, nunmehr den in dieser Richtlinie festgelegten Voraussetzungen für die Ausübung des Aufent­halts­rechts unterliegt, d. h. insbesondere dem Erfordernis, dass der Elternteil über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er keine Sozia­l­hil­fe­leis­tungen in Anspruch nehmen muss.

Sachverhalt im Fall "Ibrahim"

Frau Nimco Hassan Ibrahim, eine somalische Staats­an­ge­hörige, reiste im Februar 2003 in das Vereinigte Königreich ein, um ihrem Ehemann, Herrn Yusuf, einem dänischen Staats­an­ge­hörigen, nachzuziehen, der dort von Oktober 2002 bis Mai 2003 gearbeitet hat. Das Ehepaar hat vier Kinder dänischer Staats­an­ge­hö­rigkeit im Alter von 1 bis 9 Jahren. Die drei älteren Kinder sind mit ihrer Mutter in das Vereinigte Königreich eingereist, das jüngste Kind ist dort geboren. Die beiden Ältesten besuchen seit ihrer Ankunft eine öffentliche Schule.

Vater verlässt wegen Arbeits­un­fä­higkeit das Vereinigte Königreich

Von Juni 2003 bis März 2004 bezog Herr Yusuf Leistungen wegen Arbeits­un­fä­higkeit. Als er danach für arbeitsfähig erklärt wurde, verließ er das Vereinigte Königreich. Von dem Zeitpunkt, zu dem er aufgehört hat zu arbeiten, bis zu seiner Ausreise aus dem Vereinigten Königreich erfüllte Herr Yusuf nicht mehr die Voraussetzungen, um sich dort rechtmäßig im Sinne des Gemein­schafts­rechts aufzuhalten.

Antrag der Ehefrau auf Wohnhilfe abgelehnt

Frau Ibrahim hat sich nach dem Wegzug von Herrn Yusuf von ihm getrennt. Sie war nie wirtschaftlich unabhängig und ist in vollem Umfang auf Sozia­l­leis­tungen angewiesen. Sie besitzt keinen umfassenden Kranken­ver­si­che­rungs­schutz und ist auf den National Health Service (Staatlicher Gesund­heits­dienst) angewiesen. Im Januar 2007 beantragte sie Obdach­lo­senhilfe für sich und ihre Kinder. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass Wohnhilfe nur beanspruchen könne, wer ein durch das Unionsrecht vermitteltes Aufent­haltsrecht habe, dass aber weder Frau Ibrahim noch ihr Ehemann auf der Grundlage des Unionsrechts im Vereinigten Königreich wohnten. Frau Ibrahim focht diese Entscheidung vor den nationalen Gerichten an.

Sachverhalt im Fall "Teixeira"

Frau Maria Teixeira, eine portugiesische Staats­an­ge­hörige, kam 1989 mit ihrem Mann, der ebenfalls portugiesischer Staats­an­ge­höriger ist, nach England, und arbeitete dort zwischen 1989 und 1991. Ihre Tochter, Patricia, wurde am 2. Juni 1991 dort geboren. Frau Teixeira und ihr Ehemann ließen sich später scheiden, blieben aber beide im Vereinigten Königreich. Zwischen 1991 und 2005 arbeitete Frau Teixeira immer wieder vorübergehend im Vereinigten Königreich, und Patricia ging dort zur Schule.

Im Juni 2006 ordnete ein Gericht an, dass Patricia bei ihrem Vater wohnen sollte, aber beliebig viel Kontakt zu ihrer Mutter sollte haben können. Im November 2006 begann Patricia eine Kinder­be­treu­ungs­aus­bildung im Vauxhall Learning Centre (Vauxhall Bildungszentrum) im Stadtbezirk Lambeth. Im März 2007 zog Patricia zu ihrer Mutter.

Antrag auf Wohnhilfe mangels eigener Existenzmittel abgelehnt

Am 11. April 2007 beantragte Frau Teixeira eine Wohnhilfe für Obdachlose. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass sie kein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich habe, weil sie nicht arbeite und daher nicht über eigene Existenzmittel verfüge. Frau Teixeira focht diese Entscheidung vor den nationalen Gerichten an und machte dabei geltend, sie habe ein Aufent­haltsrecht aufgrund der Tatsache, dass sich Patricia in der Ausbildung befinde.

Kind ist durch Recht auf Zugang zur Ausbildung im Aufnah­me­mit­gliedstaat eigenständiges Aufent­haltsrecht zuzuerkennen

In seinen Urteilen weist der Gerichtshof darauf hin, dass es Art. 12 der Verordnung erlaubt, dem Kind eines Wander­a­r­beit­nehmers im Zusammenhang mit seinem Recht auf Zugang zur Ausbildung im Aufnah­me­mit­gliedstaat ein eigenständiges Aufent­haltsrecht zuzuerkennen. Vor Inkrafttreten der Richtlinie über die Freizügigkeit der Unionsbürger, als der das Aufent­haltsrecht betreffende Art. 10 der Verordnung noch in Kraft war, setzte das in Art. 12 der Verordnung vorgesehene Recht auf Zugang zur Ausbildung nicht voraus, dass das Kind während der gesamten Dauer seiner Ausbildung ein spezifisches Aufent­haltsrecht nach Art. 10 behielt. Ist nach dieser Regelung das Recht auf Zugang zur Ausbildung einmal erworben, bleibt es dem Kind erhalten und kann nicht mehr in Frage gestellt werden. Art. 12 der Verordnung verlangt nur, dass das Kind zumindest mit einem Elternteil in der Zeit in einem Mitgliedstaat lebte, in der dieser dort als Arbeitnehmer wohnte. Diese Bestimmung ist somit autonom gegenüber den unions­recht­lichen Bestimmungen anzuwenden, die die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat ausdrücklich regeln.

Aufent­haltsrecht des Kindes durch Inkrafttreten der neuen Richtlinie nicht in Frage gestellt

Diese Autonomie ist durch das Inkrafttreten der neuen Richtlinie nicht in Frage gestellt worden. Hierzu weist der Gerichtshof darauf hin, dass Art. 12 der Verordnung im Gegensatz zu anderen Bestimmungen dieser Verordnung durch die Richtlinie nicht aufgehoben und nicht einmal geändert worden ist. Außerdem zeigen die Vorarbeiten zur Richtlinie, dass diese so ausgestaltet wurde, dass sie mit dem Urteil Baumbast im Einklang stehen sollte.

Aufent­halts­rechts nicht von der Bedingung finanzieller Autonomie abhängt

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass die Gewährung des Aufent­halts­rechts der Kinder und des Elternteils nicht von der Bedingung finanzieller Autonomie abhängt. Diese Auslegung wird durch die Richtlinie bestätigt, die vorsieht, dass der Wegzug oder der Tod des Bürgers weder für seine Kinder noch für den Elternteil zum Verlust des Aufent­halts­rechts führt.

Aufent­haltsrecht des Kindes nicht von elterlichen Existenzmitteln abhängig

Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, dass das Aufent­haltsrecht, das der Elternteil genießt, der die elterliche Sorge für ein Kind eines Wander­a­r­beit­nehmers, das eine Ausbildung absolviert, tatsächlich wahrnimmt, nicht von der Voraussetzung abhängt, dass dieser Elternteil über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er während seines Aufenthalts keine Sozia­l­hil­fe­leis­tungen des Aufnah­me­mit­glied­staats in Anspruch nehmen muss.

Keine Altersgrenze für Aufent­haltsrecht während der Ausbildung

In Beantwortung einer anderen Frage, die sich in der Rechtssache Teixeira aufgrund des Umstands stellt, dass die Tochter von Frau Teixeira im Jahr 2009 18 Jahre alt und damit im Vereinigten Königreich volljährig wurde, nämlich der Frage, ob das Aufent­haltsrecht des Elternteils mit dem Eintritt der Volljährigkeit des Kindes endet, weist der Gerichtshof darauf hin, dass es für die dem Kind durch Art. 12 der Verordnung gewährten Rechte keine Altersgrenze gibt: Das Recht auf Zugang zur Ausbildung und das zugehörige Aufent­haltsrecht des Kindes gelten bis zum Abschluss seiner Ausbildung.

Keine Begrenzung des Aufent­halts­rechts, wenn Kind weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge dieses Elternteils bedarf

Zudem kann sich – obwohl bei einem Kind, das volljährig geworden ist, grundsätzlich vermutet wird, dass es selbst in der Lage ist, für seinen Unterhalt zu sorgen – das Aufent­haltsrecht des Elternteils dennoch über dieses Alter hinaus verlängern, wenn das Kind weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge dieses Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob dies tatsächlich gegeben ist.

Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass das Aufent­haltsrecht des Elternteils, der die elterliche Sorge für ein Kind eines Wander­a­r­beits­nehmers tatsächlich wahrnimmt, während das Kind eine Ausbildung im Aufnah­me­mit­gliedstaat absolviert, mit dem Eintritt der Volljährigkeit dieses Kindes endet, sofern es nicht weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge dieses Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können.

Quelle: ra-online, EuGH

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