21.11.2024
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Dokument-Nr. 5833

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil01.04.2008

Flämisches System der Pflege­ver­si­cherung steht teilweise im Widerspruch zum Gemein­schaftsrecht

Von diesem System können Staats­an­ge­hörige anderer Mitgliedstaaten als Belgiens, die in einem anderen Teil des Staatsgebiets wohnen, und in einem anderen Teil des Staatsgebiets wohnende belgische Staats­an­ge­hörige, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, nicht ausgeschlossen werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden.

Mit einem Dekret des flämischen Parlaments vom 30. März 1999 wurde ein System der Pflege­ver­si­cherung im nieder­län­dischen Sprachgebiet und im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt eingeführt. Dieses System berechtigt unter bestimmten Voraussetzungen dazu, bis zu einem Höchstbetrag die Übernahme bestimmter Kosten durch eine Pflege­ver­si­che­rungskasse zu verlangen, die durch einen Zustand gesund­heits­be­dingter Abhängigkeit entstanden sind, wie Kosten für Hilfeleistungen zu Hause oder für den Kauf von Geräten und Produkten, die der Versicherte benötigt.

Das Dekret wurde mehrfach geändert, insbesondere um den von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften erhobenen Einwänden Rechnung zu tragen. Diese rügte im Wesentlichen, dass das Erfordernis des Wohnsitzes in den betreffenden Sprachgebieten, dem die Zugehörigkeit zu diesem Pflege­ver­si­che­rungs­system unterworfen war, mit dem Gemein­schaftsrecht unvereinbar sei.

Das Wohnsitz­kri­terium wurde daraufhin durch Dekret des flämischen Parlaments vom 30. April 2004 geändert. Dieses Dekret hat den persönlichen Geltungsbereich des Pflege­ver­si­che­rungs­systems auf Personen erweitert, die in den genannten Sprachgebieten arbeiten und in einem anderen Mitgliedstaat als Belgien wohnen.

In ihren wegen der flämischen Pflege­ver­si­cherung bei der Cour d'arbitrage, jetzt Cour consti­tu­ti­o­nnelle, erhobenen Klagen haben die Regierungen der beiden anderen Einheiten des belgischen Föderalstaats, nämlich die Regierung der Französischen Gemeinschaft und die wallonische Regierung, u. a. geltend gemacht, dass der Ausschluss derjenigen, die im nieder­län­dischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt arbeiten, aber in einem anderen Teil des Staatsgebiets wohnen, vom System der Pflege­ver­si­cherung eine beschränkende Maßnahme sei, die die Freizügigkeit beeinträchtige. Hierzu hat die Cour d'arbitrage dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mehrere Fragen zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt.

Der Gerichtshof bestätigt in seiner Antwort zunächst, dass Leistungen aus einem System wie dem der fraglichen Pflege­ver­si­cherung in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen.

Sodann unterscheidet der Gerichtshof zwischen zwei Arten von Sachverhalten. Zum einen führt die Anwendung der fraglichen Regelung insbesondere dazu, dass diejenigen belgischen Staats­an­ge­hörigen vom System der Pflege­ver­si­cherung ausgeschlossen sind, die eine Berufstätigkeit im nieder­län­dischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt ausüben, aber in einem anderen Teil des Staatsgebiets wohnen und nie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Gebrauch gemacht haben. Auf solche rein internen Sachverhalte kann das Gemein­schaftsrecht nicht angewandt werden. Jedoch ist zu bemerken, dass die Auslegung der Bestimmungen des Gemein­schafts­rechts dem vorlegenden Gericht möglicherweise auch in Bezug auf Sachverhalte, die als rein intern einzustufen sind, von Nutzen sein könnte, und zwar insbesondere dann, wenn das Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorschriebe, dass jedem Inländer die gleichen Rechte zustehen, die einem Staats­an­ge­hörigen eines anderen Mitgliedstaats in einer von diesem Gericht für vergleichbar gehaltenen Lage kraft Gemein­schafts­rechts zustünden.

Zum anderen kann die streitige Regelung auch in den Anwen­dungs­bereich des Gemein­schafts­rechts fallende Arbeitnehmer oder Selbständige vom System der Pflege­ver­si­cherung ausschließen, nämlich sowohl Staats­an­ge­hörige anderer Mitgliedstaaten als Belgiens, die im nieder­län­dischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt eine Berufstätigkeit ausüben, aber in einem anderen Teil des Staatsgebiets wohnen, als auch belgische Staats­an­ge­hörige, die sich in der gleichen Situation befinden und von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben.

Eine Regelung wie die in Rede stehende kann beschränkende Wirkungen entfalten. Wander­a­r­beit­nehmer und -selbständige, die eine abhängige Beschäftigung oder eine selbständige Erwer­b­s­tä­tigkeit in einem dieser beiden Gebiete ausüben oder ausüben wollen, könnten nämlich davon abgehalten werden, von ihrer Freizügigkeit Gebrauch zu machen und ihren Herkunfts­mit­gliedstaat zu verlassen, um sich in Belgien aufzuhalten, weil eine Wohnsitznahme in bestimmten Teilen des belgischen Staatsgebiets den Verlust der Möglichkeit mit sich bringen würde, in den Genuss von Leistungen zu kommen, die sie andernfalls hätten beanspruchen können. Mit anderen Worten, der Umstand, dass sich die betroffenen Arbeitnehmer oder Selbständigen in der Situation befinden, entweder die Pflege­ver­si­cherung zu verlieren oder in der Wahl des Ortes, an den sie ihren Wohnsitz verlegen, beschränkt zu sein, ist zumindest geeignet, die Ausübung der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit und der Nieder­las­sungs­freiheit zu behindern.

Nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, können nur dann gerechtfertigt werden, wenn mit ihnen ein im Allge­mein­in­teresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet sind, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist.

Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass weder die ihm von der Cour d'arbitrage übermittelten Akten noch die Erklärungen der flämischen Regierung Gesichtspunkte enthalten, die es rechtfertigen könnten, diejenigen, die eine Berufstätigkeit im nieder­län­dischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt ausüben, für den Zugang zur Pflege­ver­si­cherung dem Erfordernis eines Wohnsitzes in einem dieser beiden Gebiete oder in einem anderen Mitgliedstaat zu unterwerfen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 18/08 des EuGH vom 01.04.2008

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