18.10.2024
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Dokument-Nr. 12244

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil06.09.2011

EuGH präzisiert den Umfang des Schutzes von Arbeit­neh­mer­rechten bei einem Übergang auf einen neuen ArbeitgeberZiel der Unions­vor­schriften ist es, Arbeitnehmer allein aufgrund des Übergangs nicht schlechter dastehen zu lassen als vorher

Es kann dem Unionsrecht zuwiderlaufen, dass übergangene Arbeitnehmer - auch diejenigen, die bei einer Behörde eines Mitgliedstaats beschäftigt gewesen sind und von einer anderen Behörde übernommen werden - allein aufgrund des Übergangs eine erhebliche Kürzung ihres Arbeitsentgelts hinnehmen müssen. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Nach den Unions­vor­schriften über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer bei Unter­neh­mens­über­gängen* gehen die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis auf Grund des Übergangs auf den Erwerber über. Zudem erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zu der Kündigung oder dem Ablauf des Kollek­tiv­vertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zu der Anwendung eines anderen Kollek­tiv­vertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollek­tiv­vertrag für den Veräußerer vorgesehen waren.

Gehaltsstufe entspricht nur 9 Jahre Dienstalter statt 20 Jahre

Frau Scattolon, die von der Gemeinde Scorzè (Italien) in staatlichen Schulen als Hausmeisterin beschäftigt war, übte diese Tätigkeit von 1980 bis 1999 als Mitglied des Verwaltungs-, technischen und Hilfspersonals (ATA) der lokalen Gebiets­kör­per­schaften aus. Ab 2000 wurde sie in den staatlichen Dienst als Mitglied des ATA-Personals des Staates übernommen und in eine Gehaltsstufe eingestuft, die in diesem Dienst einem Dienstalter von neun Jahren entsprach.

20 Jahre Dienstalter vom Ministerium nicht anerkannt

Da ihr bei der Gemeinde Scorzè erreichtes Dienstalter von etwa 20 Jahren somit vom Ministero dell’Istruzione, dell’Università et della Ricerca (Ministerium für Unterricht, Universitäten und Forschung, im Folgenden: Ministerium) nicht anerkannt wurde und sie der Auffassung ist, dadurch eine erhebliche Lohneinbuße erlitten zu haben, erhob sie beim Tribunale di Venezia (Italien) Klage auf Anerkennung ihres gesamten Dienstalters.

Tribunale di Venezia ruft EuGH zu Unions­vor­schriften an

Dieses Gericht fragt den Gerichtshof, ob die Unions­vor­schriften über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer bei Unter­neh­mens­über­gängen auf die Übernahme des bei einer Behörde eines Mitgliedstaats beschäftigten Personals durch eine andere Behörde Anwendung finden. Für den Fall, dass diese Frage bejaht wird, möchte das italienische Gericht auch wissen, ob der Erwerber für die Berechnung des Arbeitsentgelts übergegangener Arbeitnehmer das von diesen Arbeitnehmern beim Veräußerer erreichte Dienstalter berücksichtigen muss.

EuGH: Unter­neh­mens­übergang = Personal aus strukturierter Gesamtheit

Zunächst stellt der Gerichtshof fest, dass die Übernahme des bei einer Behörde eines Mitgliedstaats beschäftigten Personals, das mit der Erbringung von Hilfsdiensten an Schulen - darunter insbesondere der Instandhaltung und Hilfs­tä­tig­keiten in der Verwaltung - betraut ist, durch eine andere Behörde einen "Unter­neh­mens­übergang" darstellt, wenn dieses Personal aus einer strukturierten Gesamtheit von Beschäftigten besteht, die als Arbeitnehmer nach dem inner­staat­lichen Recht dieses Mitgliedstaats geschützt sind.

Lage darf sich durch Übergang nicht verschlechtern

Was sodann die Berechnung des Arbeitsentgelts der von einem Übergang betroffenen Arbeitnehmer betrifft, darf der Erwerber zwar ab dem Zeitpunkt des Übergangs die von dem bei ihm geltenden Kollek­tiv­vertrag vorgesehenen Arbeits­be­din­gungen - einschließlich derjenigen über das Arbeitsentgelt - anwenden, die gewählten Modalitäten einer solchen Integration der übergegangenen Arbeitnehmer in die Lohn- und Gehaltsstruktur müssen jedoch mit dem Ziel der Unions­vor­schriften über den Schutz der Rechte übergegangener Arbeitnehmer vereinbar sein, das im Wesentlichen darin besteht, zu verhindern, dass sich die Lage der übergegangenen Arbeitnehmer allein aufgrund dieses Übergangs gegenüber der Lage verschlechtert, in der sie sich vor dem Übergang befanden.

Ministerium berechnet nur "fiktives" Dienstalter

Im vorliegenden Fall hat das Ministerium, anstatt das Dienstalter als solches in vollem Umfang anzuerkennen, für jeden übergegangenen Arbeitnehmer ein "fiktives" Dienstalter berechnet, was für die Festsetzung der künftigen Lohn- und Gehalts­be­din­gungen des übergegangenen Personals eine entscheidende Rolle gespielt hat. Da die vor dem Übergang vom ATA-Personal der lokalen Gebiets­kör­per­schaften in den Schulen ausgeführten Arbeiten denen entsprachen, die das beim Ministerium beschäftigte ATA-Personal ausführte, oder mit diesen sogar identisch waren, hätte das beim Veräußerer erreichte Dienstalter eines Mitglieds des übergegangenen Personals in gleicher Höhe festgesetzt werden können wie das Dienstalter, das ein Mitglied des vor dem Übergang beim Ministerium beschäftigten ATA-Personals mit gleichem Profil erworben hatte.

Unionsrecht lässt Kürzungen des Arbeits­ent­geltes nicht zu

Daher gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass das Unionsrecht, wenn ein Übergang zur sofortigen Anwendung des beim Erwerber geltenden Kollek­tiv­vertrags auf die übergegangenen Arbeitnehmer führt und die in diesem Vertrag vorgesehenen Lohn- und Gehalts­be­din­gungen insbesondere mit dem Dienstalter verknüpft sind, nicht zulässt, dass diese Arbeitnehmer erhebliche Kürzungen ihres Arbeitsentgelts im Vergleich zu ihrer Lage unmittelbar vor dem Übergang hinnehmen müssen, weil ihr beim Veräußerer erreichtes Dienstalter, das dem Dienstalter entspricht, das die beim Erwerber beschäftigten Arbeitnehmer erworben haben, bei der Bestimmung ihres Anfangsgehalts beim Erwerber nicht berücksichtigt wird. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es bei dem Übergang im Ausgangs­ver­fahren zu einer derartigen Kürzung des Arbeitsentgelts gekommen ist.

Da der fragliche Übergang in anderen Verfahren, die von Kollegen von Frau Scattolon eingeleitet worden waren, Anlass zu Urteilen der Corte suprema di cassazione (Kassa­ti­o­ns­ge­richtshof) und darauf hin zu einem Gesetz gegeben hat, in dem die Modalitäten dieses Übergangs für alle von ihm betroffenen Arbeitnehmer in Abweichung von diesen Urteilen festgelegt wurden, hat das Tribunale di Venezia auch eine Frage zur Vereinbarkeit eines derartigen Gesetzes mit den allgemeinen Rechts­grund­sätzen wie dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und dem Grundsatz der Rechts­si­cherheit gestellt. Diese Frage, die in der Zwischenzeit vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Urteil vom 7. Juni 2011, Agrati u. a./Italien) behandelt wurde, hat der Gerichtshof nicht beantwortet. Nach seiner Ansicht brauchte die Rechtssache angesichts der Antwort auf die anderen Vorlagefragen nicht mehr unter dem Blickwinkel der allgemeinen Rechts­grundsätze

Erläuterungen
1 Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechts­vor­schriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (ABl. L 61, S. 26) und Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechts­vor­schriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 82, S. 16).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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