15.11.2024
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Dokument-Nr. 9687

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Bundesverfassungsgericht Beschluss29.04.2010

Verfassungs­beschwerde gegen Verurteilungen wegen Steuer­hin­ter­ziehung durch Manipulationen bei Erhebung der "Milchabgabe" erfolglosSaldierung bei Milchabgabe im Verhältnis zwischen Erzeugern in alten und neuen Bundesländern ausgeschlossen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat Verfassungs­beschwerden hessischer und thüringischer Milcherzeuger gegen deren strafrechtliche Verurteilungen wegen Steuer­hin­ter­ziehung durch Manipulationen bei Erhebung der so genannten „Milchabgabe“ nicht zur Entscheidung angenommen.

Auf der Grundlage der Ende der 1990er Jahre geltenden europäischen Verordnung (EWG) Nr. 3590/92 verfügten die Milcherzeuger über so genannte Referenzmengen, die jährlich produziert werden durften; bei Überschreitung der Referenzmengen wurde eine Abgabe in Höhe von 115 % des Milchpreises erhoben. „Zuviel­lie­fe­rungen“ einzelner Erzeuger durften grundsätzlich mit „Zuweniglie­fe­rungen“ anderer Hersteller verrechnet (saldiert) werden. Eine Saldierung im Verhältnis zwischen Erzeugern in den alten und neuen Bundesländern war aber durch § 7 b der auf der Grundlage des Markord­nungs­ge­setzes (MOG) vom Bundes­mi­nis­terium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten erlassenen Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGV) ausgeschlossen. Auf die Abgabe waren nach § 12 Abs. 1 Satz 1 MOG die Bestimmungen der Abgabenordnung (AO) einschließlich der Straf­be­stim­mungen anzuwenden.

In alten Ländern erzeugte Milch als Milch aus neuen Ländern ausgegeben

Die Beschwer­de­führer - Milcherzeuger aus Hessen und Thüringen - sind auf der Grundlage von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 MOG zu Freiheits­s­trafen verurteilt worden, weil sie sich daran beteiligten, in den alten Ländern erzeugte Milch als Milch aus den neuen Ländern auszugeben, um entgegen § 7 b MGV von ungenutzten Referenzmengen aus den neuen Ländern zu profitieren.

Verfas­sungs­be­schwerden nicht zur Entscheidung angenommen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die gegen die Verurteilungen gerichteten Verfas­sungs­be­schwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Die den Verurteilungen zugrunde liegenden Vorschriften sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

Vorschriften materiellen Abgabenrechts führen nicht zu verfas­sungs­rechtlich unzulässigen Ungleich­be­handlung

Die für die Verurteilung der Beschwer­de­führer relevanten Vorschriften des materiellen Abgabenrechts waren - soweit sie der Nachprüfung durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht unterliegen - formell und materiell verfas­sungsgemäß. Insbesondere beinhaltete § 7 b MGV keinen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG und führte auch nicht zu einer verfas­sungs­rechtlich unzulässigen Ungleich­be­handlung. Milch-Referenzmengen, die westdeutschen Milcherzeugern aufgrund der Milch-Garantiemengen-Verordnung 1984 ursprünglich zugeteilt worden waren, wurden durch das Saldie­rungs­verbot nicht berührt; soweit die „eigene“, zugeteilte Referenzmenge reichte, durften westdeutsche Milcherzeuger auch nach Einführung des Saldie­rungs­verbotes weiterhin abgabefrei Milch liefern. Die Vorschrift beruhte auf einer hinreichend bestimmten Ermäch­ti­gungs­grundlage und war auch nicht wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG unwirksam.

Straf­ba­r­keits­vor­aus­set­zungen waren in hinreichender Weise erkennbar

Der Straftatbestand des § 370 Abs. 1 AO in Verbindung mit § 12 Abs. 1 MOG genügte den Anforderungen des straf­recht­lichen Bestimmt­heits­grund­satzes aus Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 GG. Dies gilt auch, soweit daraus die Strafbarkeit der Hinterziehung der zusätzlichen Abgabe auf Milch nach der Verordnung Nr. 3950/92 in den Milch­wirt­schafts­jahren 1996/1997 bis 1998/1999 folgte. Insbesondere waren für die in Betracht kommenden Adressaten der Norm - nämlich Landwirte und andere beruflich mit der Milcherzeugung und der entsprechenden Abgabenerhebung in Berührung kommenden Personen - die Straf­ba­r­keits­vor­aus­set­zungen in hinreichender Weise erkennbar. Wer das Quotensystem nach Markt­ord­nungs­gesetz, Verordnung Nr. 3950/92 und Milch-Garantiemengen-Verordnung nicht wenigstens der Sache nach kannte, stand von vornherein nicht in Gefahr, sich wegen unlauterer Beteiligung daran strafbar zu machen.

Unrechtstyp in allge­mein­ver­ständ­licher, zugänglicher Weise dargelegt

Die Verweisung auf das materielle Abgabenrecht führte auch nicht zu einem Verlust der parla­men­ta­rischen Verantwortung für die Entscheidung über die Grenzen der Strafbarkeit. Auf der Rechts­fol­genseite waren Art und Maß der Strafe abschließend im formellen Gesetz festgelegt. Aber auch auf der Tatbe­standsseite gingen die dem Gemein­schafts­ge­setzgeber und dem nationalen Verord­nungsgeber verbleibenden Einfluss­mög­lich­keiten über eine verfas­sungs­rechtlich zulässige Spezifizierung jedenfalls nicht hinaus. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO erschöpft sich nicht in einer bloßen Weiter­ver­weisung auf das Abgabenrecht, sondern lässt somit einen bestimmten Unrechtstyp deutlich erkennen, indem er die tatbestandliche Handlung („wer den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht“) wie den Taterfolg („und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt“) in einer allge­mein­ver­ständ­lichen, einer Parallelwertung in der Laiensphäre zugänglichen Weise ausführt.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

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