24.11.2024
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Entscheidung17.05.2004Bundesverfassungsgericht2 BvR 821/04
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Bundesverfassungsgericht Entscheidung17.05.2004

Zur gegenwärtigen Einbe­ru­fung­s­praxis der Bundeswehr

Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, mit dem ein Wehrpflichtiger (Beschwer­de­führer; Bf) seine Einberufung zum Grundwehrdienst verhindern wollte.

1. Zum Sachverhalt:

Der Bf wurde ab 1. April 2004 zum Grundwehrdienst einberufen. Er begehrt Vollzugs­aufschub. Sein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz blieb vor dem Verwal­tungs­gericht (VG) ohne Erfolg. Dagegen hat er Verfas­sungs­be­schwerde (Vb) erhoben und zugleich vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Seine Einberufung verstoße gegen den Grundsatz der Wehrge­rech­tigkeit. Die seit 1. Juli 2003 geltende Einbe­ru­fungs­richtlinie des Bundes­mi­nis­teriums der Verteidigung verletze den Gleich­be­hand­lungs­grundsatz. Statistisch werde nur noch jeder vierte wehrpflichtige Mann zum Wehrdienst eingezogen.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es: Die Vb gegen den im Eilverfahren ergangenen Beschluss des VG bleibt in der Sache ohne Erfolg. Die Entscheidung des VG ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden.

Mit dem weiteren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt der Bf die Aussetzung der Vollziehung des Einbe­ru­fungs­be­scheids durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht. Damit will er seine Interessen in Bezug auf eine nach Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache noch zu erhebende Vb sichern. Die Vb gegen den Einbe­ru­fungs­be­scheid wirft die noch nicht geklärte Frage auf, ob die gegenwärtige Einbe­ru­fung­s­praxis mit den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben für die Wehrpflicht vereinbar ist und ob die seit dem 1. Juli 2003 geltenden Einbe­ru­fungs­richt­linien des Bundes­mi­nis­teriums der Verteidigung gegen das Gebot der Wehrge­rech­tigkeit verstoßen. In diesem Zusammenhang kann dann auch die Frage zu klären sein, ob die Wehrge­rech­tigkeit noch gewahrt ist, wenn nur ein geringer Teil der wehrpflichtigen Männer zur Bundeswehr einberufen wird. Bei offenem Ausgang eines Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahrens hängt die Entscheidung von einer Folgenabwägung ab.

a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, hätte die Vb jedoch später Erfolg, müsste der Bf seinen Wehrdienst ableisten. Die Heranziehung zum Grundwehrdienst greift erheblich in die persönliche Lebensführung, insbesondere in die berufliche Entwicklung des Wehrpflichtigen ein. Diese Folgen sind bei einem Erfolg in der Hauptsache nicht korrigierbar. Der Wehrpflichtige ist jedoch nicht nur in seinem grund­recht­lichen Abwehrrecht betroffen, sondern er steht zugleich in einem verfas­sungs­recht­lichen Pflich­ten­ver­hältnis. Die allgemeine Wehrpflicht ist verfas­sungs­rechtlich verankert. Ein Bundesgesetz, welches diese Pflicht in dem in Art. 12a Abs. 1 GG bezeichneten Umfang einführt, widerspricht der Verfassung nicht nur nicht, sondern aktualisiert eine in ihr enthaltene Grund­ent­scheidung. Das Grundgesetz erachtet es als grundsätzlich zumutbar, dass der Wehrpflichtige seinen Bürgerdienst erfüllt, und stellt die damit notwen­di­gerweise verbundenen Nachteile gegenüber dem staatlichen Wehrinteresse zurück. Die Nachteile des Wehrdienst­leis­tenden haben daher vor der Verfassung nicht das gleiche Gewicht wie vergleichbare Belastungen außerhalb dieses Pflich­ten­ver­hält­nisses.

b) Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Vb aber später keinen Erfolg, bliebe der Bf zunächst von der Ableistung des Grund­wehr­dienstes verschont. Der Nachteil für die Wehrfähigkeit Deutschlands wäre bei einer isolierten, auf den Bf beschränkten Betrachtung gering. Eine solche Betrachtung würde aber der Bedeutung der Wehrpflicht nicht gerecht. Über den Einzelfall hinaus hat die Abwägung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts darauf Bedacht zu nehmen, dass der Verfas- sungsgeber eine verfas­sungs­rechtliche Grund­ent­scheidung für eine funktionsfähige militärische Landes­ver­tei­digung getroffen und in diesem Zusammenhang den Gesetzgeber ermächtigt hat, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Einrichtung und Funkti­o­ns­fä­higkeit der Bundeswehr haben verfas­sungs­recht­lichen Rang. Die Einrichtung und Funkti­o­ns­fä­higkeit der Bundeswehr auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht sind auf eine stetige und gleichmäßige Heranziehung der tauglichen Wehrpflichtigen angewiesen. Würde man im Hinblick auf die behauptete gleich­heits­widrige Einbe­ru­fung­s­praxis es jedem Wehrpflichtigen freistellen, ob er den Grundwehrdienst antritt, wäre die Verteidigungs- und Bündnis­fä­higkeit Deutschlands in hohem Maße gefährdet. Die Gefahr einer Erosion der Wehrpflicht auf noch ungeklärter verfas­sungs­recht­licher Grundlage und der verfas­sungs­rechtliche Rang der Einrichtung und Funkti­o­ns­fä­higkeit der Bundeswehr lassen das Indivi­du­al­in­teresse des Bf gegenüber dem staatlichen Vollzug­s­in­teresse zurücktreten.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 52/04 des BVerfG vom 19.05.2004

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