Dokument-Nr. 534
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Bundesverfassungsgericht Entscheidung17.05.2004
Zur gegenwärtigen Einberufungspraxis der Bundeswehr
Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, mit dem ein Wehrpflichtiger (Beschwerdeführer; Bf) seine Einberufung zum Grundwehrdienst verhindern wollte.
1. Zum Sachverhalt:
Der Bf wurde ab 1. April 2004 zum Grundwehrdienst einberufen. Er begehrt Vollzugsaufschub. Sein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz blieb vor dem Verwaltungsgericht (VG) ohne Erfolg. Dagegen hat er Verfassungsbeschwerde (Vb) erhoben und zugleich vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Seine Einberufung verstoße gegen den Grundsatz der Wehrgerechtigkeit. Die seit 1. Juli 2003 geltende Einberufungsrichtlinie des Bundesministeriums der Verteidigung verletze den Gleichbehandlungsgrundsatz. Statistisch werde nur noch jeder vierte wehrpflichtige Mann zum Wehrdienst eingezogen.
2. In den Gründen der Entscheidung heißt es: Die Vb gegen den im Eilverfahren ergangenen Beschluss des VG bleibt in der Sache ohne Erfolg. Die Entscheidung des VG ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Mit dem weiteren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt der Bf die Aussetzung der Vollziehung des Einberufungsbescheids durch das Bundesverfassungsgericht. Damit will er seine Interessen in Bezug auf eine nach Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache noch zu erhebende Vb sichern. Die Vb gegen den Einberufungsbescheid wirft die noch nicht geklärte Frage auf, ob die gegenwärtige Einberufungspraxis mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Wehrpflicht vereinbar ist und ob die seit dem 1. Juli 2003 geltenden Einberufungsrichtlinien des Bundesministeriums der Verteidigung gegen das Gebot der Wehrgerechtigkeit verstoßen. In diesem Zusammenhang kann dann auch die Frage zu klären sein, ob die Wehrgerechtigkeit noch gewahrt ist, wenn nur ein geringer Teil der wehrpflichtigen Männer zur Bundeswehr einberufen wird. Bei offenem Ausgang eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens hängt die Entscheidung von einer Folgenabwägung ab.
a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, hätte die Vb jedoch später Erfolg, müsste der Bf seinen Wehrdienst ableisten. Die Heranziehung zum Grundwehrdienst greift erheblich in die persönliche Lebensführung, insbesondere in die berufliche Entwicklung des Wehrpflichtigen ein. Diese Folgen sind bei einem Erfolg in der Hauptsache nicht korrigierbar. Der Wehrpflichtige ist jedoch nicht nur in seinem grundrechtlichen Abwehrrecht betroffen, sondern er steht zugleich in einem verfassungsrechtlichen Pflichtenverhältnis. Die allgemeine Wehrpflicht ist verfassungsrechtlich verankert. Ein Bundesgesetz, welches diese Pflicht in dem in Art. 12a Abs. 1 GG bezeichneten Umfang einführt, widerspricht der Verfassung nicht nur nicht, sondern aktualisiert eine in ihr enthaltene Grundentscheidung. Das Grundgesetz erachtet es als grundsätzlich zumutbar, dass der Wehrpflichtige seinen Bürgerdienst erfüllt, und stellt die damit notwendigerweise verbundenen Nachteile gegenüber dem staatlichen Wehrinteresse zurück. Die Nachteile des Wehrdienstleistenden haben daher vor der Verfassung nicht das gleiche Gewicht wie vergleichbare Belastungen außerhalb dieses Pflichtenverhältnisses.
b) Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Vb aber später keinen Erfolg, bliebe der Bf zunächst von der Ableistung des Grundwehrdienstes verschont. Der Nachteil für die Wehrfähigkeit Deutschlands wäre bei einer isolierten, auf den Bf beschränkten Betrachtung gering. Eine solche Betrachtung würde aber der Bedeutung der Wehrpflicht nicht gerecht. Über den Einzelfall hinaus hat die Abwägung des Bundesverfassungsgerichts darauf Bedacht zu nehmen, dass der Verfas- sungsgeber eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine funktionsfähige militärische Landesverteidigung getroffen und in diesem Zusammenhang den Gesetzgeber ermächtigt hat, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr haben verfassungsrechtlichen Rang. Die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht sind auf eine stetige und gleichmäßige Heranziehung der tauglichen Wehrpflichtigen angewiesen. Würde man im Hinblick auf die behauptete gleichheitswidrige Einberufungspraxis es jedem Wehrpflichtigen freistellen, ob er den Grundwehrdienst antritt, wäre die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit Deutschlands in hohem Maße gefährdet. Die Gefahr einer Erosion der Wehrpflicht auf noch ungeklärter verfassungsrechtlicher Grundlage und der verfassungsrechtliche Rang der Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr lassen das Individualinteresse des Bf gegenüber dem staatlichen Vollzugsinteresse zurücktreten.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 19.04.2004
Quelle: Pressemitteilung Nr. 52/04 des BVerfG vom 19.05.2004
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