15.11.2024
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Dokument-Nr. 3708

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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.12.2006

Beschwerde über bereits erledigte Angelegenheit muss trotzdem entschieden werdenNach Verfah­ren­s­er­le­digung besteht bei fehlerhafter Sachbehandlung durch ein Gericht weiterhin Rechtschutz

Der Beschwer­de­führerin, die ihren Sohn in der Justiz­voll­zugs­anstalt besuchen wollte, wurde der Zutritt zur Anstalt mit dem Hinweis verweigert, gegen sie sei ein vierwöchiges Hausverbot verhängt. Hiergegen erhob sie „Beschwerde“ zum Amtsgericht und beantragte die sofortige Aufhebung des Hausverbots sowie die Festsetzung eines neuen Besuchstermins. Das Amtsgericht nahm an, die Angelegenheit falle nicht in die Zuständigkeit des Haftrichters nach § 119 Abs. 6 StPO, sondern nach anderen Vorschriften (§§ 23 ff. Einfüh­rungs­gesetz zum Gerichts­ver­fas­sungs­gesetz - EGGVG -) in die Zuständigkeit des Oberlan­des­ge­richts, und leitete die Sache an dieses weiter.

Nachdem die General­staats­an­walt­schaft in einer Stellungnahme zu dem Antrag Zweifel an der Antrags­be­rech­tigung der Beschwer­de­führerin nach §§ 23 ff. EGGVG angemeldet hatte, behandelte das Oberlan­des­gericht die Eingabe als Dienst­auf­sichts­be­schwerde und veranlasste, ohne die Beschwer­de­führerin hiervon zu unterrichten, die Weiterleitung an die Justiz­voll­zugs­anstalt. Nach Ablauf des vierwöchigen Hausverbots wies die Justiz­voll­zugs­anstalt die Dienst­auf­sichts­be­schwerde zurück. Daraufhin beantragte die Beschwer­de­führerin beim Oberlan­des­gericht, festzustellen, dass das gegen sie verhängte Hausverbot und sein Vollzug rechtswidrig gewesen seien. Die General­staats­an­walt­schaft nahm zu dem Antrag dahingehend Stellung, dass das Hausverbot einer gerichtlichen Überprüfung nicht unterliege, sondern nur mit einer Dienst­auf­sichts­be­schwerde angreifbar sei. Das Oberlan­des­gericht wies den Antrag als unzulässig zurück, weil das Hausverbot sich erledigt und die Beschwer­de­führerin an der Feststellung der Rechts­wid­rigkeit kein berechtigtes Interesse habe.

Die hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde war erfolgreich. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob den Beschluss des Oberlan­des­ge­richts auf, da er die Beschwer­de­führerin in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz und ihrem Anspruch auf ein faires Verfahren verletze.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Mit der Verpflichtung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes und den Anforderungen eines fairen Verfahrens ist es unvereinbar, wenn Gerichte dem Betroffenen eine Entscheidung zur Sache wegen Erledigung des ursprünglichen Rechts­schutz­be­gehrens versagen, nachdem sie selbst durch verfah­rens­feh­lerhafte Behandlung des zugrunde liegenden Antrags verhindert haben, dass eine gerichtliche Entscheidung vor Erledigung zustande kam.

Das Oberlan­des­gericht hat bei der Prüfung des Feststel­lungs­in­teresses den Umstand nicht berücksichtigt, dass es die zum Amtsgericht erhobene „Beschwerde“ der Beschwer­de­führerin in der Zeit bis zur Erledigung nicht sachgemäß behandelt und dadurch eine Entscheidung vor Eintritt der Erledigung verhindert hat. Die Behandlung des Schreibens der Beschwer­de­führerin als Dienst­auf­sichts­be­schwerde war unsachgemäß. Es war unschwer als Antrag auf eine gerichtliche Entscheidung zu erkennen. Das Schreiben war an das Amtsgericht adressiert, enthielt förmliche Anträge in der Sache und ein Beweisangebot. Optisch hervorgehoben verlangte die Beschwer­de­führerin eine sofortige Entscheidung. Nach alledem durfte das Oberlan­des­gericht nicht davon ausgehen, es handle sich um eine Dienst­auf­sichts­be­schwerde. Auch Zweifel des Oberlan­des­ge­richts, ob die "Beschwerde" als Antrag nach § 23 EGGVG zulässig war, rechtfertigten die Behandlung als Dienst­auf­sichts­be­schwerde nicht. Die Annahme, das Hausverbot sei für die Beschwer­de­führerin nur im Wege der Dienst­auf­sichts­be­schwerde angreifbar, wäre mit der Rechts­schutz­ga­rantie des Art. 19 Abs. 4 GG offensichtlich nicht vereinbar. Hinzu kommt, dass die Beschwer­de­führerin von der Behandlung des Antrags als Dienst­auf­sichts­be­schwerde nicht in Kenntnis gesetzt und damit außerstande gesetzt wurde, ihrerseits auf eine zeitgerechte gerichtliche Entscheidung hinzuwirken. Angesichts dieser voraus­ge­gangenen Fehlbehandlung, die zur Folge hatte, dass vor Erledigung des ursprünglichen Rechts­schutz­be­gehrens der geltend gemachte Anspruch der Beschwer­de­führerin von keinem Gericht inhaltlich geprüft wurde, durfte das Oberlan­des­gericht nach eingetretener Erledigung ein Forts­et­zungs­fest­stel­lungs­in­teresse der Beschwer­de­führerin nicht verneinen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 08/07 des BVerfG vom 26.01.2007

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