18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss08.11.2006

Lebenslange Freiheitsstrafe bei besonderer Schwere der Schuld ist verfas­sungsgemäßKein Verstoß gegen die Menschenwürde, den Freiheits­grundsatz oder den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit

Das Strafgesetzbuch sieht vor, dass der Strafrest einer lebenslangen Freiheitsstrafe frühestens zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wenn 15 Jahre der Strafe verbüßt sind. Eine Aussetzung des Strafrestes ist auch dann möglich, wenn nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet. Nach Verbüßung der durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeit setzt die Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe voraus, dass die Aussetzung unter Berück­sich­tigung des Sicher­heits­in­teresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. (§ 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB)

Der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hatte sich mit der Frage zu befassen, ob die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe über den durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus aus Gründen der Gefährlichkeit des Straftäters mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Der Senat stellte fest, dass die gesetzlichen Regelungen weder die Garantie der Menschenwürde noch das Freiheits­grundrecht verletzten. Das zunehmende Gewicht des Freiheits­an­spruchs bei sehr lang dauerndem Freiheitsentzug wirke sich aber auf die verfah­rens­recht­lichen Anforderungen an die Entscheidung über die Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe aus.

Sachverhalt:

1. Der 1940 geborene Beschwer­de­führer 1 wurde 1974 wegen Mordes an einer jungen Frau mit versuchter Notzucht zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. 1992 stellte das Landgericht fest, dass die besondere Schwere der Schuld eine weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht mehr gebiete, die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit aber fortbestehe. Die Vollstre­ckungs­ge­richte lehnten es daher ab, die Vollstreckung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Im Jahr 2000 wurde der Beschwer­de­führer in den offenen Vollzug verlegt. Kurze Zeit später wurde er wieder in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt, weil er an seinem ersten Arbeitstag im Rahmen eines freien Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nisses gegenüber einem dreizehn­jährigen Mädchen den Wunsch geäußert hatte, ihm intime Frage zu seinem Sexualleben zu stellen. In der Folgezeit lehnten die Gerichte auf der Grundlage psychiatrischer Gutachten die Aussetzung der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe ab, da sich die Gefahr schwerwiegender Rückfalltaten nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen lasse.

2. Der 1944 geborene Beschwer­de­führer 2 wurde 1972 wegen sexuell motivierter Morde an einem jungen Mädchen und deren Mutter zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. 1997 stellte das Landgericht fest, dass die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung nicht mehr gebiete, wegen des verbleibenden Restrisikos aber die Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Die eingeholten Sachver­stän­di­gen­gut­achten kamen zu dem Ergebnis, dass die Gefährlichkeit des sich mittlerweile im offenen Vollzug befindlichen Beschwer­de­führers weiterhin nicht sicher ausgeschlossen werden könne. Die Gerichte lehnten in der Folgezeit die Aussetzung der Straf­voll­streckung des Beschwer­de­führers ab.

3. Die gegen die Ablehnung der Aussetzung der Straf­voll­streckung erhobenen Verfas­sungs­be­schwerden der Beschwer­de­führer waren im Ergebnis ohne Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe über den durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus aus Gründen der Gefährlichkeit des Straftäters verletzt weder die Garantie der Menschenwürde noch das Freiheits­grundrecht.

Die Garantie der Menschenwürde und das Rechts­s­taats­prinzip fordern, dass der Verurteilte eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance hat, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wieder­zu­ge­winnen. Diese Chance wird durch eine strikte Beachtung des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes bei der Entscheidung über die Fortdauer des Freiheits­entzugs sichergestellt. Je länger der Freiheitsentzug andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhält­nis­mä­ßigkeit des Freiheits­entzugs. Der nachhaltige Einfluss des gewichtiger werdenden Freiheits­an­spruchs des Betroffenen stößt jedoch dort an Grenzen, wo es wegen der Art der von ihm drohenden Gefahren, deren Bedeutung und Wahrschein­lichkeit vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Betroffenen in die Freiheit zu entlassen.

Die Verant­wort­barkeit der Vollstre­ckungs­aus­setzung unter Berück­sich­tigung des Sicher­heits­in­teresses der Allgemeinheit schließt es mit ein, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird. Die Vertretbarkeit des Restrisikos ist dabei nicht allein von den im Falle eines Rückfalls bedrohten Rechtsgütern abhängig, sondern auch vom Grad der Wahrschein­lichkeit erneuter Straffälligkeit. Auch bei schweren Gewalt- oder Sexualdelikten steht aber die bloße theoretische Möglichkeit eines Rückfalls, die angesichts der Begrenztheit jeder Progno­semög­lichkeit nie sicher auszuschließen ist, der Aussetzung nicht von vorne herein entgegen. Vielmehr ist die Ableh­nungs­ent­scheidung durch konkrete Tatsachen zu belegen, die das Risiko als unvertretbar erscheinen lassen. Auf der anderen Seite verlangt die zu treffende Prognose die Verant­wort­barkeit der Aussetzung mit Rücksicht auf unter Umständen zu erwartende Rückfalltaten. Bei Straftaten, die wie der Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, kommt dem Siche­rungs­be­dürfnis der Allgemeinheit naturgemäß eine besonders hohe Bedeutung zu. Daher kommt hier wegen der Art der im Versagensfall zu befürchtenden Taten eine bedingte Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe nur unter strengen Voraussetzungen in Betracht. Bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Verurteilte ein neues schweres Verbrechen begehen werde, so kommt eine Aussetzung nicht in Betracht.

2. Das zunehmende Gewicht des Freiheits­an­spruchs bei sehr lang dauerndem Freiheitsentzug wirkt sich auf die verfah­rens­recht­lichen Anforderungen an die Entscheidung über die Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe aus.

a) Wegen der zeitlichen Unbestimmtheit bedarf es einer regelmäßigen Überprüfung der weiteren Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Nach der gegenwärtigen gesetzlichen Regelung haben Staats­an­walt­schaft und Verurteilter die Möglichkeit, jederzeit die bedingte Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe zu beantragen.

b) Die Voraussetzungen der Aussetzung sind frühzeitig zu prüfen, um Raum für eine sachgerechte Entlas­sungs­vor­be­reitung zu geben. Vollzugs­lo­cke­rungen kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Für den Richter erweitert und stabilisiert sich die Basis der prognostischen Beurteilung, wenn dem Gefangenen zuvor Vollzugs­lo­cke­rungen gewährt worden sind.

c) Je länger der Freiheitsentzug dauert, desto höher sind die Anforderungen an die Sachaufklärung durch die Gerichte. Im Rahmen des unbefristet wirkenden Freiheits­entzugs gebietet das Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung, einen erfahrenen Sachver­ständigen zu Rate zu ziehen, der die richterliche Prognose durch ein hinreichend substantiiertes und zeitnahes Gutachten vorbereitet.

d) Darüber hinaus wachsen die Anforderungen an die Begründung der richterlichen Entscheidung. Der Richter darf sich nicht mit allgemeinen Wendungen begnügen, sondern muss seine Bewertung substantiiert offen legen. Zudem ist dem Verurteilten im Regelfall ein Pflicht­ver­teidiger beizuordnen.

e) Wird der Freiheitsentzug im Wesentlichen mit dem Sicher­heits­in­teresse der Allgemeinheit begründet, ist zu prüfen, ob den besonderen Belastungen des lang andauernden Freiheits­entzuges durch einen privilegierten Vollzug Rechnung getragen werden kann. Insbesondere in Fällen, in denen der Freiheitsentzug schon über Jahrzehnte andauert, dienen Privilegien im Strafvollzug dazu, dem Verurteilten einen Rest an Lebensqualität zu gewährleisten.

3. Die von den Beschwer­de­führern angegriffenen Beschlüsse werden den dargelegten verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen gerecht. Sie verletzen sie nicht in ihrer Menschenwürde, entsprechen dem Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz und genügen den verfah­rens­recht­lichen Anforderungen, die bei der Entscheidung über die Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe zu beachten sind.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 115/06 des BVerfG vom 08.11.2006

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