15.11.2024
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Dokument-Nr. 1346

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Bundesverfassungsgericht Beschluss25.10.2005

Unter­schiedliche Behandlung von Vater und Mutter bei der Erteilung einer Aufent­halt­s­er­laubnis für ihr Kind ist nicht verfas­sungsgemäß

Die Verfas­sungs­be­schwerde eines türkischen, bei seinem Vater in Deutschland lebenden Kindes gegen die Versagung einer Aufent­halt­s­er­laubnis war erfolgreich. Der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts stellt fest, dass es mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG (Gleich­be­hand­lungsgebot) nicht vereinbar ist, die erleichterte Erteilung einer Aufent­halt­s­er­laubnis für ein im Bundesgebiet geborenes Kind allein an den Aufent­halt­stitel der Mutter, nicht hingegen auch des Vaters zu knüpfen.

Die entsprechenden Regelungen des Auslän­der­ge­setzes und die nunmehr geltende Nachfol­ge­re­gelung im Aufent­halts­gesetz sind daher nicht verfas­sungsgemäß. Der Gesetzgeber ist gehalten, den Gleich­heits­verstoß bis zum 31. Dezember 2006 zu beheben. Bis dahin können die betroffenen Bestimmungen zugunsten von Kindern, die ein Aufent­haltsrecht von der Mutter ableiten, weiter angewandt werden. Entscheidungen über Anträge, die an das Aufent­haltsrecht des Vaters anknüpfen, sind auszusetzen.

Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:

§ 21 des Auslän­der­ge­setzes in der Fassung vom 9. Juli 1990 regelte erstmals die Rechtsstellung von in Deutschland geborenen Kindern hier lebender Ausländer. Ein bindender Rechtsanspruch auf erstmalige Erteilung einer Aufent­halt­s­er­laubnis für das im Bundesgebiet geborene Kind besteht danach nur dann, wenn die Mutter eine Aufent­halt­s­er­laubnis oder Aufent­halts­be­rech­tigung besitzt. Ob der Vater ein entsprechendes Aufent­haltsrecht hat, ist unerheblich. Diese Rechtslage wurde im Hinblick auf die Voraussetzungen der erstmaligen Erteilung einer Aufent­halt­s­er­laubnis im Wesentlichen unverändert in das neue, seit dem 1. Januar 2005 geltende Aufent­halts­gesetz (§ 33 Satz 1 AufenthG) übernommen.

Die 1999 in Deutschland geborene Beschwer­de­führerin ist ebenso wie ihre Eltern türkische Staats­an­ge­hörige. Ihr Vater lebt seit etwa 25 Jahren in Deutschland; 1989 wurde ihm eine unbefristete Aufent­halt­s­er­laubnis erteilt. Die Mutter der Beschwer­de­führerin reiste 1997 nach Deutschland ein. Eine ihr zunächst erteilte Aufent­halt­s­er­laubnis wurde 1998 zurückgenommen. Die Mutter der Beschwer­de­führerin wird seither geduldet. Im Jahr 2002 wurden die Eltern geschieden. Der Vater, bei dem die Beschwer­de­führerin lebt, hat das alleinige Sorgerecht. Ein im Juni 1999 für die Beschwer­de­führerin gestellter Antrag auf Erteilung einer Aufent­halt­s­er­laubnis wurde abgelehnt, da die Mutter kein gesichertes Aufent­haltsrecht habe. Die hiergegen gerichtete Klage blieb vor den Verwal­tungs­ge­richten ohne Erfolg. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob die Entscheidungen auf und verwies die Sache an das Verwal­tungs­gericht Düsseldorf zurück.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die mit der Verfas­sungs­be­schwerde angegriffene Regelung stellt die im Bundesgebiet geborenen ausländischen Kinder, deren Mutter eine Aufent­halt­s­er­laubnis oder Aufent­halts­be­rech­tigung hat, gegenüber denjenigen besser, bei denen allein der Vater einen entsprechenden auslän­der­recht­lichen Status hat. Darin liegt eine Bevorzugung wegen des Geschlechts im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Diese Differenzierung ist nicht gerechtfertigt.

§ 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG ist keine Regelung zum Schutz der Mutter-Kind- Beziehung. Die Vorschrift beantwortet die Frage der erstmaligen Erteilung einer Aufent­halt­s­er­laubnis an ein in Deutschland geborenes Kind. Dabei verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, das Kind am rechtmäßigen Aufenthalt eines Elternteils teilhaben zu lassen. Das Aufent­haltsrecht der Mutter bildet erkennbar nur den ordnungs­recht­lichen Anknüp­fungspunkt für die Erteilung der Aufent­halt­s­er­laubnis. Eine Anknüpfung an das Aufent­haltsrecht der Mutter ist aber nicht zwingend erforderlich. Eine Gleich­be­handlung beider Elternteile ist ohne weiteres möglich. Der zu ordnende Lebens­sach­verhalt – der Aufent­halts­status des Kindes – betrifft Vater und Mutter in gleicher Weise.

Das Aufent­haltsrecht des Kindes (auch) von dem des Vaters abzuleiten, stößt ferner nicht auf praktische Schwierigkeiten, so dass auch von daher die Anknüpfung an das Aufent­haltsrecht der Mutter nicht zwingend erforderlich ist. Die Annahme, Väter, die in Deutschland ein Aufent­haltsrecht haben, seien typischerweise nicht erreichbar, wäre offensichtlich verfehlt. Die mögliche Erwägung, das Aufent­haltsrecht des Kindes bedürfe schneller und einfacher Klärung und deshalb sei allein auf die Mutter abzustellen, hat im Gesetz keinen Niederschlag gefunden und trägt auch in der Sache nicht.

Die Ungleich­be­handlung ist auch nicht auf Grund einer Abwägung mit kollidierendem Verfas­sungsrecht gerechtfertigt. Das durch Art. 6 GG gewährleistete Kindeswohl verlangt nicht, dass das Kind aufent­halts­rechtlich ausschließlich der Mutter zugeordnet wird. Weder Aspekte der Familieneinheit noch solche der gerade in der ersten Zeit nach der Geburt des Kindes meist besonders intensiven Gemeinschaft zwischen Mutter und Kind lassen sich ausschließlich dadurch verwirklichen, dass die Interessen des Vaters ausgeklammert werden. Im Gegenteil stehen der durch § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG vorgenommenen Differenzierung die verfas­sungs­ge­stützten Wertungen des Familienrechts, wonach beide Elternteile gleich­be­rechtigt sind, entgegen. Wenn der Gesetzgeber für das erleichterte Aufent­haltsrecht des Kindes allein auf den Aufent­halts­status der Mutter abhebt, vernachlässigt er sowohl die Sorgerechtslage als auch die tatsächlichen Lebens­ver­hältnisse der Familien, die häufig von gemeinsamer Sorge und häufiger als früher sogar von einer vorrangigen oder ausschließ­lichen Betreuung des Kindes durch den Vater geprägt sind.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 117/05 des BVerfG vom 25.11.2005

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