18.10.2024
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Dokument-Nr. 2192

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Bundesverfassungsgericht Beschluss04.04.2006

Erneut erfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Aufrecht­er­haltung von Unter­su­chungshaft

Der mehrfach vorbestrafte Beschwer­de­führer verbüßte eine gegen ihn wegen gemein­schaft­lichen Raubes verhängte Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten. Das Ende der Strafhaft war für den 12. September 2005 notiert. Im Februar 2005 erhob die Staats­an­walt­schaft gegen den Beschwer­de­führer eine weitere Anklage wegen des Verdachts zahlreicher Betrugs­hand­lungen mit EC-Karten und beantragte den Erlass eines Haftbefehls.

Das Landgericht ließ im August 2005 die Anklage im Wesentlichen zu und erließ den beantragten Haftbefehl. Die Unter­su­chungshaft wurde nach Ende der Strafhaft ab 13. September 2005 vollzogen. Die zunächst für November 2005 festgesetzten Haupt­ver­hand­lungs­termine hob das Landgericht unter Hinweis auf eine Überlastung wieder auf und bestimmte neuen Termin für März 2006. Der Haftprü­fungs­antrag des Beschwer­de­führers blieb vor dem Landgericht und dem Oberlan­des­gericht ohne Erfolg.

Die Verfas­sungs­be­schwerde des Beschwer­de­führers, mit der er sich gegen die Aufrecht­er­haltung der Unter­su­chungshaft wandte, war erfolgreich. Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellte fest, dass die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht verletzten, da dem in Haftsachen geltenden Beschleu­ni­gungsgebot nicht hinreichend Rechnung getragen worden sei. Die Sache wurde an das Oberlan­des­gericht zu erneuter Entscheidung zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Landgericht und das Oberlan­des­gericht haben den Verfah­rens­ablauf nicht hinreichend analysiert. Während das Landgericht die zwischen­zeitlich erfolgte Termin­sauf­hebung nicht erwähnt, weist das Oberlan­des­gericht pauschal darauf hin, dass mit der Durchführung der Haupt­ver­handlung noch vor der gesetzlich vorgesehenen Sechs-Monats-Frist gerechnet werden könne, weshalb eine für den Beschwer­de­führer unzumutbare Verfah­rens­ver­zö­gerung nicht vorliege (Anm.: die Straf­pro­zess­ordnung sieht vor, dass die Unter­su­chungshaft nur ausnahmsweise über sechs Monate fortdauern darf). Diese Begründung legt nahe, dass das Oberlan­des­gericht einer vor dem Ablauf der Sechs-Monats- Frist eingetretenen Verfah­rens­ver­zö­gerung schon grundsätzlich keine Bedeutung beimessen will. Eine derartige Auffassung widerspricht jedoch dem Beschleu­ni­gungsgebot. Die gesetzlich vorgesehene Sechs-Monats-Frist stellt nur eine Höchstgrenze dar. Aus dieser Vorschrift kann nicht der Schluss gezogen werden, dass das Strafverfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht dem Beschleu­ni­gungsgebot gemäß geführt werden müsse. Vielmehr gilt auch vor diesem Zeitpunkt der Grundsatz, dass die Straf­ver­fol­gungs­be­hörden und Strafgerichte alle möglichen zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen.

Darüber hinaus lässt die Begründung nicht erkennen, ob das Oberlan­des­gericht überhaupt geprüft hat, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen eingetreten sind. In diesem Zusammenhang wird das Gericht sich mit der Tatsache ausein­an­der­setzen müssen, dass es auf Grund der Termins­ver­legung zu einer Verzögerung von vier Monaten gekommen ist und dass seit Beginn des Vollzugs der Unter­su­chungshaft nach hiesigem Erkenntnisstand keine angemessene Verfah­rens­för­derung festgestellt werden kann. Es wird auch darauf einzugehen sein, dass über die Eröffnung des Hauptverfahrens erst im August 2005 entschieden worden ist, obwohl die Anklageschrift bereits im Februar 2005 bei dem Landgericht eingegangen war. Der Gesichtspunkt, dass sich der Beschwer­de­führer bis zum 12. September 2005 in Strafhaft befand, bietet keinen Grund zu einer Rechtfertigung des festgestellten Verfah­rens­ablaufs. Auch im Falle einer Überlastung einer Strafkammer ist es nicht angängig, eine Strafsache zunächst hintan zu stellen und sie nicht angemessen zu fördern, weil sich der Angeklagte noch in einer anderen Sache in Strafhaft befindet.

Der Geltung des Beschleu­ni­gungs­grund­satzes kann sich ein Gericht auch nicht dadurch entziehen, dass es mit der Entscheidung über den Erlass des beantragten Haftbefehls zuwartet. Hätte das Landgericht den Haftbefehl zeitnah erlassen, wäre das in Haftsachen geltende Beschleu­ni­gungsgebot zum Tragen gekommen. Dieses ist auch dann zu beachten, wenn ein Haftbefehl wegen einer Strafhaft in anderer Sache nicht vollzogen wird, sondern lediglich Überhaft vermerkt ist. Dem kann sich ein Gericht durch ein Hinausschieben der Entscheidung über einen Haftbe­fehl­s­antrag nicht entziehen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 29/06 des BVerfG vom 06.04.2006

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