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Dokument-Nr. 35222

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Urteil15.07.2025Bundesverfassungsgericht2 BvR 508/21
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Bundesverfassungsgericht Urteil15.07.2025

Bundes­ver­fas­sungs­gericht weist Verfas­sungs­be­schwerde gegen US-Drohneneinsätze im Nahen Osten via Ramstein abErfolglose Verfas­sungs­be­schwerde zu Drohnen­e­in­sätzen unter Nutzung der Air Base Ramstein

Der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat die Verfas­sungs­be­schwerde zweier jemenitischer Staats­an­ge­höriger zurückgewiesen. Die Verfas­sungs­be­schwerde betrifft die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland eine im Zusammenhang mit der Durchführung von Einsätzen bewaffneter Drohnen durch die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) in der Republik Jemen unter Nutzung technischer Einrichtungen auf dem US-Luftwaf­fen­stützpunkt Ramstein gegenüber den Beschwer­de­führern etwaig bestehende Schutzpflicht verletzt hat.

Der Senat führt in seinem Urteil aus, dass der Bundesrepublik Deutschland zwar ein allgemeiner Schutzauftrag dahingehend obliegt, dass der Schutz grundlegender Menschenrechte und der Kernnormen des humanitären Völkerrechts auch bei Sachverhalten mit Auslands­be­rührung gewahrt bleibt. Dieser Schutzauftrag kann sich unter bestimmten Bedingungen zu einer konkreten grund­recht­lichen Schutzpflicht verdichten. Allerdings müssen für das Entstehen einer solchen Schutzpflicht zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erforderlich sind erstens ein hinreichender Bezug zur Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland, der den notwendigen Verant­wor­tungs­zu­sam­menhang begründet, und zweitens das Vorliegen einer ernsthaften Gefahr der systematischen Verletzung des anwendbaren Völkerrechts.

An diesen Maßstäben gemessen ist die Verfas­sungs­be­schwerde unbegründet. Ob sich im Rahmen der gebotenen wertenden Gesamt­be­trachtung eine grundrechtliche Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die hier streit­ge­gen­ständ­lichen Drohneneinsätze der Vereinigten Staaten von Amerika im Jemen ergibt, konnte dabei offenbleiben. Denn aufgrund der fachge­richt­lichen Feststellungen hat der Senat das Vorliegen einer ernsthaften Gefahr der systematischen Verletzung des anwendbaren Völkerrechts verneint.

Sachverhalt

Bei der Air Base Ramstein handelt es sich um einen Luftwaf­fen­stützpunkt in Rheinland-Pfalz, der von den US-Streitkräften genutzt wird. Das Bundes­mi­nis­terium der Verteidigung wurde von diesen im April 2010 und im November 2011 über den geplanten Bau einer Satelliten-Relaisstation auf dem Gelände der Air Base Ramstein zur Steuerung auch waffenfähiger Drohnen im Ausland informiert. Es erklärte daraufhin, dass gegen die Verwirklichung des Vorhabens im Truppen­bau­ver­fahren keine Bedenken bestünden. Die Beschwer­de­führer sind jemenitische Staats­an­ge­hörige, deren nahe Verwandte im August 2012 bei einem US-amerikanischen Drohneneinsatz in ihrem Heimatort im Jemen getötet worden sind. Sie haben im Jahr 2014 Klage vor dem Verwal­tungs­gericht erhoben und im Wesentlichen beantragt, die beklagte Bundesrepublik Deutschland zu verurteilen, die Nutzung der Air Base Ramstein, insbesondere der Satelliten-Relaisstation, durch die USA für Einsätze bewaffneter Drohnen auf dem Gebiet des Jemen durch geeignete Maßnahmen zu unterbinden. Das Verwal­tungs­gericht wies die Klage ab. Im Berufungs­ver­fahren vor dem Oberver­wal­tungs­gericht hatten die Beschwer­de­führer dagegen teilweise Erfolg; die Bundesrepublik Deutschland wurde verurteilt, sich durch geeignete Maßnahmen zu vergewissern, dass eine Nutzung der Air Base Ramstein durch die USA für Einsätze bewaffneter Drohnen auf dem Gebiet des Jemen nur im Einklang mit dem Völkerrecht stattfinde. Auf die Revision der Bundesrepublik Deutschland änderte das Bundes­ver­wal­tungs­gericht das Urteil des Oberver­wal­tungs­ge­richts und wies die Berufung gegen das Urteil des Verwal­tungs­ge­richts zurück.

Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde wenden sich die Beschwer­de­führer gegen die klage­ab­wei­senden Entscheidungen des Verwal­tungs­ge­richts und des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts. Sie rügen insbesondere eine Verletzung ihres Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG). Die Bundesrepublik Deutschland habe eine ihr insoweit obliegende Schutzpflicht, die sich auch auf im Ausland befindliche Ausländer beziehe, verletzt.

Wesentliche Erwägungen des Senats

Die zulässige Verfas­sungs­be­schwerde ist unbegründet.

I. 1. Der Bundesrepublik Deutschland obliegt ein allgemeiner Schutzauftrag dahingehend, dass der Schutz grundlegender Menschenrechte und der Kernnormen des humanitären Völkerrechts auch bei Sachverhalten mit Auslands­be­rührung gewahrt bleibt. Dies folgt aus der Völker­rechts­freund­lichkeit des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 GG. Unter bestimmten Voraussetzungen kann der deutsche Staat auch verpflichtet sein, das Völkerrecht im eigenen Verant­wor­tungs­bereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen.

2. Dieser allgemeine Schutzauftrag zugunsten der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts kann sich unter bestimmten Bedingungen je nach Einzelfall zu einer konkreten grund­recht­lichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verdichten, die sich auf die Einhaltung des anwendbaren Völkerrechts zum Schutz des Lebens bezieht.

a) Art. 1 Abs. 3 GG begründet eine umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes, die sich nicht allein auf das deutsche Staatsgebiet beschränkt. Denn Art. 1 Abs. 2 GG enthält ein Bekenntnis zu den unverletzlichen und unver­äu­ße­r­lichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die Grundrechte des Grundgesetzes werden so in den Zusammenhang internationaler Menschen­rechts­ge­währ­leis­tungen gestellt, die über die Staatsgrenzen hinweg auf einen Schutz abzielen, der dem Menschen als Menschen gilt.

Das Verfas­sungsrecht ist bei Sachverhalten mit Auslandsbezügen mit dem Völkerrecht abzustimmen. Für die Auslegung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als Grundlage von Schutzpflichten sind in der vorliegenden Konstellation jene völker­recht­lichen Regeln heranzuziehen, die dem Schutz des Lebens in bewaffneten Konflikten dienen. Hierunter fallen das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Leben.

b) Soweit diese Schutzpflicht auf die Einhaltung der völker­recht­lichen Regeln zum Schutz des Lebens gerichtet ist, erfasst sie auch Gefährdungen, die von Akteuren ausgehen, welche nicht der Grund­rechts­bindung des Grundgesetzes unterliegen. Dies schließt grundsätzlich Gefährdungen durch einen anderen Staat ein.

c) Die Schutzpflichten aus Grundrechten des Grundgesetzes sind nicht auf deutsche Staats­an­ge­hörige oder Menschen im deutschen Staatsgebiet beschränkt. Der Grundsatz der Völker­rechts­freund­lichkeit als Verfas­sungs­ent­scheidung für eine auf Achtung und Stärkung des Völkerrechts aufbauende zwischen­staatliche Zusammenarbeit sowie der Anspruch eines umfassenden, den Menschen in den Mittelpunkt stellenden Grund­rechts­schutzes sprechen dafür, dass sich die staatliche Schutzpflicht auch auf im Inland (mit)verursachte Gefähr­dungslagen bezieht, deren Risiko sich erst im Ausland und gegenüber dort aufhältigen Ausländern realisieren kann.

d) Eine extra­ter­ri­toriale Schutzpflicht besteht indes nur unter besonderen Voraussetzungen. Erforderlich ist insoweit als erste Voraussetzung ein hinreichender Bezug der die Schutz­be­dürf­tigkeit auslösenden Gefahrenlage zur Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland.

Die Frage, ob ein hinreichender Bezug gegeben ist, ist anhand einer an den Umständen des Einzelfalls ausgerichteten wertenden Gesamt­be­trachtung zu beantworten. Für die Begründung eines Verant­wor­tungs­zu­sam­menhangs dürfte dabei nicht zwingend erforderlich sein, dass die eine Schutzpflicht auslösende Gefahrenlage auf eine auf deutschem Staatsgebiet vorgenommene Maßnahme mit Entschei­dung­s­cha­rakter zurückgeht. Auch die Ermöglichung einer Grund­rechts­ge­fährdung vonseiten eines Drittstaats durch ein Handeln, Dulden oder Unterlassen deutscher Staatsorgane kann grund­rechts­re­levant sein. Eine auf einen bloß zufälligen Gebietskontakt beschränkte territoriale Verankerung auch nur eines Teils eines Gesamt­ge­schehens reicht für die Auslösung einer grundrechtlich relevanten Schutz­be­dürf­tigkeit im Ausland dabei allerdings nicht aus. Vielmehr bedarf es eines – bezogen auf die gefährdende Handlung des Drittstaats und jenseits reiner Kausalität – spezifischen Beitrags von einem gewissen Gewicht, um einen hinreichenden Bezug zur grund­rechts­ge­bundenen deutschen öffentlichen Gewalt herzustellen. Dabei kann gegebenenfalls auch die Schwere des in Rede stehenden Völker­rechts­ver­stoßes Berück­sich­tigung finden.

e) Für eine Verdichtung des allgemeinen Schutzauftrags zu einer konkreten extra­ter­ri­to­rialen Schutzpflicht im Hinblick auf das Handeln eines Drittstaats muss als weitere Voraussetzung die ernsthafte Gefahr bestehen, dass dem Schutz des Lebens dienende Regeln des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechte systematisch verletzt werden. Dies setzt zwar nicht voraus, dass bereits systematische Völker­rechts­ver­let­zungen erfolgt sind. Erforderlich sind aber gewichtige Anhaltspunkte, die den Eintritt derartiger Verletzungen nicht bloß möglich erscheinen, sondern ernstlich befürchten lassen.

Geht es um ein möglicherweise völker­rechts­widriges Handeln eines Drittstaats, ist zugleich in den Blick zu nehmen, dass das Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland in die internationale Gemeinschaft eingebunden und die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtet hat. Dementsprechend ist die Sicherstellung der außen­po­li­tischen Handlungs- und Bündnis­fä­higkeit der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Teilhabe an der internationalen Zusammenarbeit dem Grundgesetz als Ziel immanent. Bei der Bündnis­fä­higkeit der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich um ein Verfassungsgut, das bei der Konkretisierung extra­ter­ri­to­rialer Schutzpflichten zu berücksichtigen ist.

Daher müssen gewichtige Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Gefahr bestehen, dass der Bündnispartner nicht lediglich in Einzelfällen, sondern systematisch gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte verstößt.

f) Bei der Prüfung, ob eine solche Gefahr durch das Handeln eines Drittstaats besteht, ist die Rechts­auf­fassung der für außen- und sicher­heits­po­li­tische Fragen zuständigen deutschen Staatsorgane, denen das Grundgesetz für die Regelung der auswärtigen Beziehungen einen grundsätzlich weit bemessenen Spielraum einräumt, maßgeblich zu berücksichtigen, soweit sich diese als vertretbar erweist.

Auch hinsichtlich des Inhalts einer Schutzpflicht ist zu beachten, dass es grundsätzlich Sache der für die Außen- und Sicher­heits­politik zuständigen Stellen des Bundes ist, darüber zu entscheiden, in welcher Weise der Schutzpflicht des Staates gegenüber fremden Staaten oder anderen ausländischen Akteuren genügt wird. Eine Schutzpflicht gegenüber im Ausland lebenden Menschen muss nicht den gleichen Inhalt haben wie gegenüber Menschen im Inland. Dem Staat stehen in Ansehung der völker­recht­lichen Grenzen deutscher Hoheitsgewalt gegenüber im Ausland lebenden Menschen grundsätzlich nicht die gleichen Schutz­mög­lich­keiten zur Verfügung wie in Bezug auf rein innerstaatliche Sachverhalte. In Konstellationen, in denen die Bundesrepublik Deutschland über einen Sachverhalt keine ausschließliche Kontrolle hat, kann die Schutzpflicht zu einem international ausgerichteten Handeln verpflichten.

g) Die vorstehenden Maßstäbe tragen auch den von der Bundesrepublik Deutschland zu beachtenden völker­recht­lichen Verpflichtungen Rechnung. Denn nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs ist jeder Vertragsstaat der Genfer Konventionen, unabhängig davon, ob er an einem bestimmten Konflikt beteiligt ist oder nicht, verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Anforderungen der betreffenden Verträge erfüllt werden.

II. Hieran gemessen kann eine Verletzung der Beschwer­de­führer in ihren Grundrechten durch die angegriffenen Entscheidungen im Ergebnis nicht festgestellt werden.

1. Es lassen sich zwar Gesichtspunkte dafür anführen, dass die Einbindung der Air Base Ramstein in die Durchführung der US-amerikanischen Einsätze bewaffneter Drohnen im Jemen einen hinreichenden Bezug zur deutschen Staatsgewalt herstellt, der eine Voraussetzung für das Entstehen einer Schutzpflicht ist. Die fachge­richt­lichen Feststellungen legen das Bestehen eines hinreichenden Bezugs nahe. Mit der Errichtung der Satelliten-Relaisstation wurde eine Infrastruktur geschaffen, die speziell der Durchführung von Einsätzen bewaffneter Drohnen dient. Hiervon hatte die Bundesregierung auch Kenntnis. Diese Umstände erscheinen geeignet, eine besondere Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland – auch in Abgrenzung zu anderen Staaten – für die Gefährdungslage im Jemen zu begründen. Gegen einen hinreichenden Bezug könnte indes sprechen, dass die bloße technische Herstellung einer Daten- und Kommu­ni­ka­ti­o­ns­ver­bindung zwischen der Drohne und den Führungs­ein­rich­tungen der USA normativ neutral und in der Gesamtschau nur von untergeordnetem Gewicht ist.

2. Ob sich im Rahmen der gebotenen wertenden Gesamt­be­trachtung eine grundrechtliche Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die hier streit­ge­gen­ständ­lichen Drohneneinsätze der USA im Jemen ergibt, kann letztlich offenbleiben. Denn aufgrund der fachge­richt­lichen Feststellungen ist das Vorliegen einer ernsthaften Gefahr einer systematischen Verletzung der völker­recht­lichen Regeln zum Schutz des Lebens als Voraussetzung einer Verdichtung des allgemeinen Schutzauftrags zu einer konkreten Schutzpflicht gegenüber den Beschwer­de­führern zu verneinen.

a) Die Rechts­auf­fassung der USA, die den Einsätzen bewaffneter Drohnen im Jemen zugrunde liegt, ist für sich genommen nicht geeignet, gewichtige Anhaltspunkte für eine ernsthafte Gefahr systematischer Verletzungen des humanitären Völkerrechts zu begründen.

aa) Es ist nicht feststellbar, dass die USA in dem nicht internationalen bewaffneten Konflikt im Jemen unvertretbare Kriterien zur Abgrenzung legitimer militärischer Ziele von geschützten Zivilpersonen anwenden. Diese Abgrenzung wird kontrovers diskutiert.

(1) Nach einer verbreiteten, wenn auch nicht gänzlich unumstrittenen Auffassung wird zunehmend anerkannt, dass Personen, die für eine organisierte bewaffnete Gruppe kämpfen, nicht nur während der Dauer ihrer konkreten unmittelbaren Teilnahme an Feind­se­lig­keiten, sondern auch darüber hinaus legitime militärische Ziele darstellen können.

Hinsichtlich der Frage, anhand welcher Kriterien dieser Personenkreis zu bestimmen ist, werden verschiedene Ansätze vertreten. Die USA sind der Auffassung, Personen, die nach einer formalen oder funktionalen Betrachtung zu einer nicht­staat­lichen bewaffneten Gruppe gehören, seien legitime militärische Ziele, weil sie die feindliche Absicht der Gruppe teilten. Eine Person dürfe aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppe angegriffen werden, solange sie sich nicht eindeutig von dieser Gruppe losgesagt habe.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) definiert die Mitglieder einer organisierten bewaffneten Gruppe funktional als diejenigen, die eine fortgesetzte Funktion ausübten, welche darin bestehe, unmittelbar an Feind­se­lig­keiten teilzunehmen. Die Rechtsfigur der fortgesetzten Kampffunktion erfordere eine dauerhafte Integration in eine solche Gruppe. Damit eine Handlung eine unmittelbare Beteiligung an Feind­se­lig­keiten darstelle, müsse sie sich negativ auf die militärischen Operationen oder die militärische Leistungs­fä­higkeit einer anderen Partei des bewaffneten Konflikts auswirken oder alternativ den Tod oder die Verletzung von geschützten Personen oder die Zerstörung von geschützten Objekten zur Folge haben.

(2) Soweit das vom IKRK aufgestellte Erfordernis einer fortgesetzten Kampffunktion enger erscheint als die von den USA vertretene Bestimmung des Kreises legitimer militärischer Ziele, folgt hieraus nicht zwingend, dass die Auffassung der USA als unvertretbar weit zu beurteilen wäre. So bindet die IKRK-Studie die Vertragsstaaten der Genfer Konventionen nicht. Vor dem Hintergrund der bisherigen Staatenpraxis kann nicht festgestellt werden, dass der Inhalt der Studie in Gänze bereits als Völker­ge­wohn­heitsrecht anerkannt ist und insoweit weitergehende Ansätze wie denjenigen der USA ausschließt. Zugleich erweist sich letzterer nicht als unvertretbar weit. Die unter­schied­lichen, teils konträren Ansichten im Schrifttum und die im Verfahren erhobenen Stellungnahmen der sachkundigen Dritten lassen nicht den Schluss zu, dass die US-amerikanische Rechts­auf­fassung zur Bestimmung legitimer militärischer Ziele im nicht internationalen bewaffneten Konflikt, soweit sie sich von der Auffassung des IKRK unterscheidet, als außerhalb des völkerrechtlich Vertretbaren liegend anzusehen ist.

bb) Die ernsthafte Gefahr eines systematischen Verstoßes gegen das Recht auf Leben gemäß dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte folgt auch nicht daraus, dass die USA die extra­ter­ri­toriale Anwendung dieses Pakts nicht anerkennen. Sie vertreten damit zwar eine Rechtsansicht, die nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs und der Spruchpraxis des Menschen­rechts­aus­schusses steht. Allerdings ist nicht ersichtlich, dass sich diese Rechtsansicht auf die Einsatzpraxis im vorliegenden Fall ausgewirkt hat.

cc) Somit erweist sich die Auffassung der Bundesregierung, dass die US-amerikanische Auslegung des einschlägigen Völkerrechts – auch wenn sie sich nicht in allen Punkten mit derjenigen der Bundesrepublik Deutschland decke – grundsätzlich als völkerrechtlich vertretbar einzuordnen sei und folglich die Beachtung des humanitären Völkerrechts als solches durch die USA nicht infrage stelle, ihrerseits als völkerrechtlich vertretbar. Sie bewegt sich daher innerhalb des ihr eingeräumten weiten Einschät­zungs­spielraums in der Außen- und Sicher­heits­politik.

b) Dass systematische Verletzungen des humanitären Völkerrechts und des Rechts auf Leben ernstlich zu befürchten sind, ergibt sich ferner nicht hinreichend deutlich aus kritischen Berichten über die US-amerikanische Einsatzpraxis bewaffneter Drohnen oder den Stellungnahmen internationaler Organe, auch nicht aus den von den Beschwer­de­führern herangezogenen Berichten der UN-Sonder­be­rich­t­er­statter und den Resolutionen des Menschen­rechtsrats, des Europäischen Parlaments und der Parla­men­ta­rischen Versammlung des Europarats. Die (hohe) Zahl ziviler Opfer kann für sich genommen – ohne Hinzutreten weiterer Elemente – die ernsthafte Gefahr systematischer Verstöße gegen das hier einschlägige Völkerrecht nicht begründen. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass im Jemen systematisch gegen das Verbot exzessiver Kolla­te­ral­schäden verstoßen worden ist, sind den angeführten Berichten und Resolutionen nicht zu entnehmen.

c) Die ernsthafte Gefahr einer systematischen Verletzung des humanitären Völkerrechts und des Rechts auf Leben ergibt sich auch nicht auf Grundlage einer wertenden Gesamt­be­trachtung.

aa) Der Einsatz bewaffneter Drohnen zum Zwecke sogenannter gezielter Tötungen ist zwar Gegenstand zahlreicher international wie auch in den USA kontrovers geführter Diskussionen. Dabei richtet sich die Kritik etwa gegen die weite Auslegung des humanitären Völkerrechts wie auch des Rechts auf Selbst­ver­tei­digung durch die USA. Diese weite Auslegung bezieht sich etwa auf die räumliche Ausdehnung des bewaffneten Konflikts und folglich des Anwen­dungs­be­reichs des humanitären Völkerrechts, auf die Bestimmung des Kreises legitimer militärischer Ziele und auf den Einsatz von Drohnen auch außerhalb konkreter Gefechts­si­tua­tionen. Insbesondere wurde in den ersten Jahren außerdem die fehlende Transparenz in Bezug auf die konkreten Einsatz­re­ge­lungen und die Frage des Personenkreises, der als legitime militärische Ziele angegriffen wird, kritisiert. In der Zwischenzeit haben die USA rechtliche Erklärungen und Einsatz­re­ge­lungen – wenn auch stellenweise geschwärzt – veröffentlicht.

bb) Diese Kritikpunkte reichen jedoch auch in einer Zusammenschau nicht aus, um die ernsthafte Gefahr einer systematischen Verletzung des humanitären Völkerrechts und des Rechts auf Leben der Beschwer­de­führer im Jemen annehmen zu können. Eine Verdichtung des allgemeinen Schutzauftrags zu einer konkreten grund­recht­lichen Schutzpflicht gegenüber den Beschwer­de­führern kommt damit nicht in Betracht.

Selbst wenn die zuvor aufgeführten Kritikpunkte das Risiko des Auftretens von Verletzungen der völker­recht­lichen Regeln zum Schutz des Lebens erhöhen sollten, rechtfertigt dies nicht die Prognose, dass derartige Verletzungen systematisch vorgenommen werden. Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA mag es im Einzelnen unter­schiedliche Verständnisse hinsichtlich der Reichweite der gemeinsamen völker­recht­lichen Verpflichtungen geben. Dadurch wird das grundsätzlich zwischen Bündnispartnern herrschende Vertrauen in die Rechtmäßigkeit des Handelns des anderen aber jedenfalls so lange nicht infrage gestellt, wie sich die von der Bundesrepublik Deutschland abweichende Rechts­auf­fassung der USA im Rahmen des völkerrechtlich Vertretbaren hält. Dies ist hier der Fall.

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass sich die USA trotz ihres weitergehenden Rechts­ver­ständ­nisses der eigenen Handlungs­be­fugnisse in der Einsatzpraxis – zumindest aus Gründen politischer Opportunität – zusätzliche Beschränkungen auferlegt haben. So nahm mit der Dauer des Einsatzes bewaffneter Drohnen das Bemühen der USA zu, zivile Schäden zu vermeiden, den Schutz der Zivil­be­völ­kerung zu verbessern und die Transparenz der Operationen zu erhöhen.

3. Da bereits die Tatbe­stands­vor­aus­set­zungen für das Bestehen einer extra­ter­ri­to­rialen Schutzpflicht nicht erfüllt sind, bedarf es keiner Entscheidung, ob die Bundesregierung einer ihr etwaig obliegenden Schutzpflicht gegenüber den Beschwer­de­führern durch die Einholung einer Zusicherung der USA, dass Aktivitäten in US-Militä­r­lie­gen­schaften in Deutschland im Einklang mit dem geltenden Recht erfolgen, sowie durch den Austausch mit US-amerikanischen Stellen auf diplomatischer Ebene gerecht geworden wäre.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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