15.11.2024
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Dokument-Nr. 2152

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Beschluss31.03.2006Bundesverfassungsgericht2 BvR 486/05
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Bundesverfassungsgericht Beschluss31.03.2006

Kein Wieder­auf­nah­me­ver­fahren gegen Todesurteile von 1944Entscheidungen kraft Gesetz aufgehoben

Im Jahre 1944 wurden zwei damals erst 14-jährige Jugendliche in Aachen zusammen mit einer Gruppe von Erwachsenen durch Wehrmachts­an­ge­hörige unter dem Vorwurf des Plünderns festgenommen. Ein sogleich eingesetztes Standgericht verurteilte die beiden Jungen zum Tode. Das Urteil wurde unmittelbar danach durch Erschießen vollstreckt. Den Jungen wurde keine Gelegenheit gegeben, Rechtsmittel einzulegen.

Im Jahre 2003 wandten sich Angehörige (Beschwer­de­führer) der beiden Jugendlichen mit „Anträgen auf Rehabilitierung“ an die Staats­an­walt­schaft Aachen. Diese erteilte ihnen die Bescheinigung, dass die Verurteilung aufgrund des Gesetzes zur Aufhebung natio­nal­so­zi­a­lis­tischer Unrechtsurteile in der Straf­rechts­pflege (NS-Aufhe­bungs­gesetz) aufgehoben sei. Ein daraufhin gestellter Antrag der Angehörigen auf Wiederaufnahme des stand­ge­richt­lichen Verfahrens mit dem Ziel, die beiden hingerichteten Jungen vom Vorwurf der Plünderung freizusprechen, wurde in letzter Instanz vom Oberlan­des­gericht Köln als unzulässig verworfen.

Ihre hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde blieb ohne Erfolg. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts führt aus, dass das Oberlan­des­gericht in verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen ist, dass den Beschwer­de­führern das Wieder­auf­nah­me­ver­fahren nicht mehr eröffnet ist, da die Urteile bereits nach dem Gesetz zur Aufhebung natio­nal­so­zi­a­lis­tischer Unrechtsurteile in der Straf­rechts­pflege aufgehoben sind.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Den Beschwer­de­führern ist das Wieder­auf­nah­me­ver­fahren nicht mehr eröffnet, da es infolge der Aufhebung der Urteile nach dem NS- Aufhe­bungs­gesetz an einem „Anfech­tungs­ge­genstand“ für ein Wieder­auf­nah­me­ver­fahren fehlt. Gegen die Verfas­sungs­mä­ßigkeit des NS- Aufhe­bungs­ge­setzes bestehen keine Bedenken, insbesondere ist es verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass sich der Gesetzgeber in rehabi­li­tie­rungs­würdigen Fällen der vorliegenden Art für eine pauschale Aufhebung statt für eine Wiederaufnahme der einzelnen Verfahren entschieden hat.

Das Wieder­auf­nah­me­ver­fahren geht von im Grundsatz rechts­s­taat­lichen Verhältnissen aus, unter denen im Einzelfall fehlerhafte Verfah­ren­s­er­gebnisse auch nach Rechts­kraf­teintritt korrigiert werden können. In Fällen der vorliegenden Art geht es dagegen um ein systembedingtes reines Willkür­ver­fahren, das aber bei Anwendung der Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens als Grundlage für die Durchführung einer nachträglichen Beweisaufnahme dienen würde. Damit käme diesem Verfahren ein Stellenwert zu, den es nicht verdient. Darüber hinaus ist das herkömmliche Wieder­auf­nah­me­ver­fahren zumindest unzulänglich, die sich aus der Existenz natio­nal­so­zi­a­lis­tischer Unrechtsurteile stellenden Probleme zu lösen. So müsste ein Wieder­auf­nah­megrund vorliegen, was jedenfalls in Bezug auf die Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel allein schon wegen der lange zurückliegenden Zeit unwahr­scheinlich ist. Darüber hinaus sind die Fährnisse eines Wieder­auf­nah­me­ver­fahrens zur berücksichtigen. Wenn etwa das von den jeweiligen Antragstellern beigebrachte neue Beweismittel nicht geeignet ist, einen Freispruch herbeizuführen, etwa weil ein Zeuge sich doch nicht mehr genau erinnern kann, wäre der Antrag auf Wiederaufnahme als unbegründet zu verwerfen oder gar das frühere Urteil aufrecht­zu­er­halten.

Zudem ist zu bedenken, dass eine Aufrollung des Einzelfalles häufig dadurch erschwert wird, dass die Verfahrensakten absichtlich oder aufgrund von Kriegs­ein­wir­kungen vernichtet worden sind. Bei der Frage, wie eine umfassende Rehabilitation erreicht werden kann, ist schließlich auch die hohe Zahl der bis 1998 noch in Kraft gewesenen NS-Unrechtsurteile, die auf mehrere Hunderttausende geschätzt wurde, zu berücksichtigen. Allein dies macht deutlich, dass durch eine detaillierte Neubeurteilung jedes einzelnen Sachverhaltes das gesetz­ge­be­rische Ziel nicht zu erreichen war. Angesichts dieser Probleme hat der Gesetzgeber die Grenzen seiner Gestal­tungsmacht nicht überschritten, wenn er statt einer gerichtlichen Aufhebung der Einzelfälle eine gesetzliche Aufhebung der Entscheidungen anordnet. Hierdurch wird dem Rehabi­li­tie­rungs­in­teresse der Betroffenen aus verfas­sungs­recht­licher Sicht hinreichend Genüge getan.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 26/06 des BVerfG vom 31.03.2006

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